Jubiläum: 29. April 1987 - 29.April 1997

 

Unsere Jubiläumsschrift "10 Jahre Betreute Wohngruppen für alleinstehende Menschen" senden wir Ihnen gerne zu.
Bitte ein mit DM 3.-- freigemachtes Couvert bzw. eine Schutzgebühr zusenden. 

Hier einige Artikel aus dieser 72seitigen Schrift:

 

 

Grußwort von Oberbürgermeisterin Beate Weber

Wir stehen in Deutschland einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich gegenüber. Elementare Merkmale eines humanen Lebens werden in unserem reichen Land für eine wachsende Zahl von Menschen in Notunterkünften oder auf der Straße beeinträchtigt. Armut und Obdachlosigkeit sind gesellschaftliche Phänomene geworden - auch wenn sie von vielen gerne übersehen und ignoriert werden.

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Drei Dokumente speziell für Menschen "O.F.WOHNSITZ"

Diese Dokumente sind veraltet - zum Glück. Durch Anklicken bitte vergrößern.

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1. Bußgeldbescheid: Einmal auf einer Bank im Anatomiegarten in HD "aus Ohr legen" kostet DM 85.--. Nicht für Touristen, sondern nur für "O.F.Wohnsitz"

2. Pfändung: Unterhalb der Ernst-Walz-Brücke schlafen, kostet DM 144.--. Und da man nicht bezahlen kann, wird die Pfändung angekündigt.

3. Großzügig wird ein Lebensmittelbezugsschein über DM 5.-- (in Worten (---FÜNF---) ausgestellt

 

Wie alles anfing... (S. 6-9)

Es war 2 Jahre vor der Vereinsgründung, d. h. also im Jahr 1985, als unsere wohlorganisierte Aktivität von heute in Form einer „privaten Initiative" das Licht der Welt erblickte.

Die „private Initiative" war zunächst ich selbst allein. Den Anstoß zum Tätigwerden vermittelten mir die folgenden zeitlich zusammenfallenden Erlebnisse:

Berichte über den Kältetod eines „Obdachlosen", die mir klarmachten, dass es eine schmerzhafte Lücke im System der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung gab;

Beobachtungen hinsichtlich der hilflosen Repressivität polizeilicher Maßnahmen gegen Wohnungslose, die jederzeit damit rechnen mussten, z. B. in den Wald verbracht und dort ausgesetzt, oder auch angesichts ihrer Unfähigkeit zur Begleichung von Geldstrafen inhaftiert und somit kriminalisiert zu werden;

die Entdeckung, dass hinter der Wohnungslosigkeit der meisten Betroffenen nicht der Wunsch nach einem Leben in unkonventioneller Freiheit und Ungebundenheit, sondern vielmehr eine unbewältigte soziale Problematik und ein damit verbundenes unfreiwilliges Abrutschen ins gesellschaftliche Abseits stand;

die Wahrnehmung eines eklatanten Widerspruchs zwischen der vorherrschenden Meinung, alleinstehende Wohnungslose seien „Nichtsesshafte", d. h. abartige Menschen mit fehlender Wohn- und Eingliederungswilligkeit, und dem mir gegenüber gesprächsweise sehr nachdrücklich geäußerten Wunsch Betroffener, endlich wieder „ein Dach über dem Kopf" zu haben;

Beobachtungen über das Fehlen eines Ansatzes, das Problem Wohnungslosigkeit direkt beim Schopfe zu packen, in der Mitte zwischen „therapeutischen" Resozialisierungsmaßnahmen auf der einen Seite und dem Angebot gutgemeinter, aber den Zustand der Wohnungslosigkeit nicht verändernder Erleichterungen (Suppenausgabe; Angebot eines warmen Aufenthalts zu bestimmten Zeiten an Werktagen etc.) auf der anderen Seite;

die Feststellung eines Betroffenen, wenn er nur wieder wohnen könnte, dann würde er z. B. auch wieder arbeiten können, die mir verdeutlichte, in welchem enormen Maße in unserem System die Verfügung über Sozialchancen an die Voraussetzung einer Wohnung gebunden ist und wie entscheidend es somit ist, Menschen, die in die Wohnungslosigkeit gefallen sind, möglichst schnell wieder zu einer „Adresse" zu verhelfen.

Angesichts dieser Erlebnisse drängte sich mir die Vorstellung einer Lösung des Wohnungslosigkeitsproblems auf, die im Rückblick verhältnismäßig „schlicht" erscheinen mag, in welcher jedoch alle nachfolgenden Entwicklungen bereits zumindest im Keim schon vorweggenommen waren: Die Bemühung nämlich, alleinstehenden Wohnungslosen durch den Einsatz individuell verfügbarer Zeit, Energie und Vermittlungstätigkeit im Wege einer kurz entschlossenen „wiederaufrichtenden Hilfe" zu einer Behausung zu verhelfen und ihnen damit eine strategische Chance für den Weg zurück zu eröffnen.

So plausibel diese Lösungsvorstellung aus heutiger Perspektive erscheinen mag - in der damaligen Situation war sie alles andere als dies. Angesichts des damals noch ungebrochen herrschenden Vorurteils gegen die sogenannten „Nichtsesshaften" (oder „Penner", „Berber", „Stadtstreicher" etc.) musste ich mir selbst von zahlreichen Wohlmeinenden und sozial Engagierten, wie auch von manchen professionellen Sozialhelfern, vorwerfen lassen, ich würde einer recht naiven Sozialromantik nachhängen. Es gab zunächst kaum jemanden, der meinen nunmehr einsetzenden Bemühungen um Wohnraum für Wohnungslose eine Erfolgschance zuerkennen wollte. Als Ausnahme nenne ich Herrn Blatz, damals Leiter des Sozialdienstes katholischer Männer, der meine Aktivitäten unterstützte und mich auch zu einer Tagung der Caritas unter dem Motto: „Jeder Mensch braucht ein zu Hause" mitnahm. Dieses Motto begleitet mich seither.

Ich bekam sonst immer wieder zu hören: „Warten Sie nur, wenn der Frühling kommt und es wärmer wird, dann laufen Ihnen die alle wieder weg!" Auch beim städtischen Sozialamt, das sich allerdings dankenswerterweise bald auf meine Seite stellte, bestanden anfangs starke Zurückhaltungsmotive. Man erklärte mir dort, wenn die „Nichtsesshaften" wirklich wohnen wollten, dann würde dem nichts im Wege stehen, denn für diesen Fall sei die Übernahme der Mietkosten vorgesehen. Die einzige Voraussetzung sei, dass ein Mietvertrag beigebracht werde. Dass dies nicht geschehe, sei doch wohl ein hinlänglicher Beweis dafür, dass bei den „Nichtsesshaften" kein normales Wohnbedürfnis vorhanden sei.

Des Rätsels Lösung und damit auch der Zugang zur Praxis der Problemlösung wurde mir allerdings deutlich, als ich anfing, mit potentiellen Vermietern Kontakte aufzunehmen und hierbei entdeckte, dass diese nicht um alles in der Welt dazu bereit waren, einen Mietvertrag ohne eine Mietanzahlung zu unterschreiben und auszuhändigen. Es war für mich nun klar erkennbar, dass hier ein Teufelskreis vorlag, den die Wohnungslosen aus eigener Kraft nicht zu durchbrechen vermochten: Ohne Geld kein Vertrag - ohne Vertrag kein Geld. Die angeblich fehlende Bereitschaft zum Ergreifen einer ausgestreckten Hand ging darauf zurück, dass sich diese Hand hinter einer Panzerglasscheibe befand und somit unerreichbar war.

Ich entdeckte noch weitere ähnlich gelagerte Teufelskreise. Zusammengenommen erkannte ich, dass die angeblich fehlende Wohn- und Eingliederungswilligkeit der „Nichtsesshaften" zumindest in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle in Wahrheit das Ergebnis sozialer und ökonomischer Zwänge war, die es den Betroffenen unmöglich machten, scheinbar naheliegende Problemlösungswege einzuschlagen, so dass ihnen letztlich nur der eine Ausweg verblieb, sich resignativ ins scheinbar Unvermeidliche zu fügen und sich mit Hilfe von Alkohol subjektive Erleichterung zu verschaffen. Mein Entschluss, diesen Menschen zu einer Behausung zu verhelfen, musste sich also, wie ich erkannte, zusätzlich mit der Bereitschaft verbinden, die Teufelskreise zu „knacken", d. h. z. B. gegenüber Vermietern aktiv als Vermittler und Bürge aufzutreten und ggf. auch aus eigener Tasche einen Mietvorschuss zu leisten, wie auch im weiteren Verlauf beim Sozialamt von Fall zu Fall um Einsicht und Entgegenkommen zu werben. Hinzu kamen, wie ich sehr bald feststellte, angesichts der mangelnden Fähigkeit der Menschen zum Umgang mit den komplexen Anforderungen der Sozialbürokratie in zahlreichen Fällen aber noch weitere Hilfs- und Unterstützungstätigkeiten, so insbesondere die Hilfe bei der Erlangung der bis dahin meist nicht in Anspruch genommenen Sozialhilfe, oder bei der Beantragung des Arbeitslosengeldes oder auch einer eigentlich zustehenden Rente.

Bei vielen Wohnungslosen war die durch soziale und ökonomische Zwänge zurückgedrängte und durch die Zeichen des Elends überdeckte „Normalmenschlichkeit" noch derartig lebendig, dass es möglich war, sie innerhalb von Stunden gewissermaßen wieder hervorzuzaubern: Wo es mir gelang, sie zu behausen, verwandelten sich diese bislang Wohnungslosen im Nu mit Hilfe von Dusche, Seife, Spiegel, Kamm und Rasierapparat, wie auch mit Hilfe der Kleidung, die ich ihnen zu beschaffen begann, in absolut normal wirkende Bürger, denen keiner mehr den sogenannten „Penner" ansehen konnte und die überhaupt keine Schwierigkeiten hatten, sich in das Ordnungsschema des alltäglichen gesellschaftlichen Lebens wieder einzugliedern. Hier bewahrheitete sich ganz uneingeschränkt meine schlichte Ausgangsvorstellung, dass es jenseits aller Therapie „nur" darauf ankam, den Wohnungslosen eine Behausung zu verschaffen, um sie zu reintegrieren. Ein wichtiger Erfolgsindikator war auch, dass mir der Leiter der Heidelberger Kriminalpolizei bereits nach einem halben Jahr erklärte, die vorher unter den Wohnungslosen verbreitete Kleinkriminalität habe deutlich abgenommen. Ein weiterer Erfolgsindikator war endlich, dass die vorher von manchen Skeptikern befürchtete „Sogwirkung" intensivierter Hilfsmaßnahmen nicht eintrat. Es erwies sich auch hierhin die Richtigkeit meiner zunächst vielfach bezweifelten Annahme, dass die meisten sogenannten „Nichtsesshaften" nicht Angehörige eines wandernden „Penner"-Völkchens waren, sondern Menschen, die aufgrund ihrer Unfähigkeit zur Bewältigung einschneidender persönlicher und sozialer Notlagen aus dem gesellschaftlichen Lebens- und Leistungszusammenhang herausgefallen waren und die den Weg zurück aus eigener Kraft nicht mehr finden konnten.

Ein Teil der ehemals Wohnungslosen fand nach der gelungenen Behausung bald den Weg zurück zur eigenständigen Lebensführung und konnte nach kurzer Zeit „verabschiedet" werden. Ein weiterer Teil von ihnen brauchte zwar eine zeitweilige Begleitung, die aber allmählich auf das Niveau gelegentlicher Hilfen zurückgenommen werden konnte. Bei anderen waren allerdings die Erfahrungen fortgesetzten Elends, ständig erlebter erniedrigender Ausgrenzung, fehlender Perspektiven und der Heilssuche beim Alkohol nicht ohne Zerrüttungsfolgen geblieben. Auch bei ihnen fand ich zwar meist die spontane Bereitschaft zur Rückkehr ins „bürgerliche Leben" vor. Sie verband sich aber oft mit einer ausgeprägten Hilflosigkeit im Hinblick auf die Bewältigung mancher Anforderungen eines geordneten Daseins, wie auch mit einer Alkoholabhängigkeit, die zumindest auf kürzere Sicht unüberwindlich erschien. Im Zusammenhang damit bestand vielfach eine Unfähigkeit, mit dem Geld, über das man nun wieder zu verfügen begann, haushälterisch umzugehen, so dass ich selbst mich verschiedentlich dazu veranlasst sah, das mühselige Geschäft der Geldverwaltung zu übernehmen, wie auch selbst Mietverträge abzuschließen. Überdies wurde bei manchen ein starker Wunsch nach dauernder Betreuung erkennbar, der sich meist mit einer objektiven Betreuungsbedürftigkeit verband. Es war somit offensichtlich, dass sich meine Tätigkeit unvermeidlich mit der Entstehung und dem fortwährenden Anwachsen einer „Klientel" zu verbinden begann.

Es war dies eine Erfahrung, die mich über die „schlichte" Ausgangsvorstellung einer Lösung des Problems der Wohnungslosigkeit durch den kurzentschlossenen Einsatz eigener Energie und Aktivität hinauszutreiben begann. Erstens waren, wie mir deutlich wurde, im Umgang mit der entstehenden „Klientel" längerfristig betreuungsbedürftiger Menschen nun andere Konzepte und Eigenschaften erforderlich als in der Anfangssituation, in welcher noch die schnellen Erfolge vorherrschten. Es kam nunmehr darauf an, das Vorgehenskonzept, das ich frühzeitig entwickelt hatte, auf eine längerfristige Betreuungstätigkeit zu übertragen, d. h. den Optimismus einer „wiederaufrichtenden Hilfe" durch eine nachhaltige individuelle Zuwendung und durch den geduldigen Umgang mit Schwachen zu ergänzen, die z. B. immer wieder hinter ihren guten Willen zum Verzicht auf den Alkoholismus zurückfielen. Zweitens wurde für mich aber auch immer deutlicher sichtbar, dass diese Aufgabenstellung die Kräfte einer „privaten Initiative" - auch einer solchen, die inzwischen durch einzelne engagierte Helfer unterstützt wurde - bei weitem zu überfordern begann.

Es war diese Einsicht die eigentliche Geburtsstunde des „Vereins Betreute Wohngruppen e. V.". Im Rückblick war diese Gründung angesichts der Entwicklung, die sich während der zurückliegenden Zeit ergeben hatte, unvermeidlich. Es war eine glückliche Fügung, dass ich inzwischen in Ursula von Dallwitz eine kongeniale Partnerin gefunden hatte, die in der Lage war, die neu entstehenden Erfordernisse mit Energie und Geschick aufzugreifen und den Aufbau des Vereins maßgeblich zu fördern.

Dass wir jetzt wortreich das Jubiläum des Vereins feiern, nachdem wir die Wiederkehr der Gründung der „privaten Initiative", die seine Ursprungsstätte war, wortlos übergangen hatten, könnte zwar zu denken geben. Wer dynamisch nach vorn denkt und die Notwendigkeit einsieht, die vom einen zum anderen führte, wird jedoch einer solchen Versuchung nicht nachgeben. Letzten Endes dokumentierten die Gründung des Vereins und seine fortwährende segensreiche Wirksamkeit den Erfolg der „privaten Initiative", die nicht nur am Anfang stand, sondern in ihm fruchtbringend weiterwirkt.

Allen sei Dank, die diese Entwicklung mitgetragen und ermöglicht haben!
Dörte Klages

  

 

Wie alles weiterging ... (S. 10-15)

10 Jahre „Betreute Wohngruppen für alleinstehende Menschen" e. V. - was ist aus der Idee von Frau Klages und der Privatinitiative geworden, die vor 12 Jahren anfing, für Obdachlose eine Bleibe zu suchen und den Teufelskreis - keine Wohnung - keine Arbeit zu durchbrechen?

Vielleicht wäre alles ganz anders gelaufen, wenn wir nicht bei einem Gespräch in Weinheim mit dem Leiter einer Stiftung auf die Gefahren, die so jungen Initiativen drohen, hingewiesen worden wären. Die besten Ideen, die mit großem Engagement vertreten und durchgesetzt werden, verlöschen sehr schnell wie ein Strohfeuer, wenn versäumt wird, eine innere und äußere Organisation aufzubauen und dem Ganzen feste Strukturen zu geben. Diese Warnung war der Anlass mich sehr früh, vor allem nach der Vereinsgründung, um die Verwaltung zu kümmern und mir ein Organisationsschema zu überlegen. Für einen Verwaltungsfachmann wäre das leicht gewesen, aber da ich das nicht war, tastete ich mich mühsam vor.

Als der Verein gegründet wurde, lagen für mich schon 1½ und für Frau Klages schon 2½ Jahre Arbeit hinter uns, und wir hatten wichtige Erfahrungen gesammelt: Wir erlebten die Menschen in ihrer Hoffnungs- und Mutlosigkeit, die sie mit viel Alkohol verdrängten. Die meisten von ihnen hatten den Glauben an eine Veränderung längst aufgegeben.

Aber fast alle Obdachlosen hatten den Wunsch zu wohnen und wieder bürgerlich zu leben, aber sie schafften es nur selten ohne Hilfe. Sie wollten auch nicht in asozialer Umgebung wohnen und nicht in Heimen. Durch viele negative Erlebnisse in Kindheit und Jugend mit Kinder- und Erziehungsheimen sind sie allen stationären Einrichtungen gegenüber sehr misstrauisch und scheuen es, sich wieder in Abhängigkeiten zu begeben und bevormundet zu werden. Deshalb wurde ich oft von ihnen gefragt, ob ich vom Sozialamt, von der Kirche oder vom Gericht beauftragt wäre, oder warum ich käme - einfach nur so? - und als Privatperson? Das war ihnen bisher selten vorgekommen und erregte ihre Neugier. Da wir auch keine Bedingungen stellten und nicht nach der Vergangenheit fragten - unsere Frage lautete nur: "Was können wir für Sie tun?", nahmen sie unsere Hilfe an.

Das erste was wir besorgten, war ein Dach über dem Kopf, ein Zimmer für sich allein. Doch damit war nur der Anfang gemacht. Das Aussehen des vordem Obdachlosen änderte sich zwar sehr schnell, bald war er von anderen Bürgern nicht mehr zu unterscheiden, aber alle anderen Schritte, die zum Aufbau einer bürgerlichen Existenz notwendig sind, konnte er ohne Anleitung nicht machen. Allein die Beschaffung der Geburtsurkunde für den Personalausweis war für manche ein unüberwindbares Hindernis. Hinzu kam, dass, sobald eine polizeiliche Anmeldung vorlag, also ein fester Wohnsitz vorhanden war, den Obdachlosen das frühere Leben einholte: er war für seine Gläubiger und für die Justiz auffindbar. Die Gefahr, bei allen auftretenden Schwierigkeiten wieder abzutauchen, wie bisher immer, ist am Anfang sehr groß. Sich mit Schwierigkeiten auseinanderzusetzen und sich ihnen zu stellen, muss erst erlernt werden.

Unser Einsatz erregte Aufmerksamkeit, natürlich auch Verwunderung und Missfallen, wie immer, wenn eingefahrene Zu- oder Umstände verändert oder in Frage gestellt werden. Die gängige Meinung über die Penner, die an ihrem Schicksal selber schuld seien, „die könnten, wenn sie nur wollten", stellte sich als das heraus, was es ist, nämlich als Vorurteil. Die meisten sind durch unglückliche Lebensumstände auf die Straße geraten.

Am 17. März 1987 wurde der Verein gegründet und am 29. April 1987 in das Vereinsregister eingetragen. Er hat sich zur Aufgabe gemacht, alleinstehenden Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten einen Übergang in ein normales Leben zu ermöglichen, so heißt es in der Präambel; und weiter in § 2 der Satzung: „Zweck des Vereins ist Hilfe für Personen mit besonderen persönlichen Schwierigkeiten, die in Teilbereichen noch zur Lebensbewältigung in der Lage sind und bei entsprechender Betreuung - gegebenenfalls durch eine Fachkraft - noch ein sinnvolles Leben führen können und keiner Einweisung in ein Alten- oder Pflegeheim bedürfen. Das bedeutet, der Verein "Betreute Wohngruppen für alleinstehende Menschen" gibt Obdachlosen ein Zuhause, eine Heimat. Er vermietet ihnen die Zimmer oder Wohnungen zeitlich unbegrenzt und hilft ihnen durch Betreuung, in ein bürgerliches Leben zurückzufinden.

Wie sieht die praktische Arbeit aus?

Der Verein tritt in den meisten Fällen als Mieter auf oder übernimmt eine Mietgarantie dem Vermieter gegenüber. Der ehemals Obdachlose ist unser Untermieter und erhält einen unbefristeten Mietvertrag. Die Miete wird inclusiv aller Nebenkosten berechnet. Der Verein trägt die Verantwortung für die Wohnung. Alle Bereiche, die mit der An- oder Untervermietung zusammenhängen, auch Heizung, Gas, Strom, Reparaturen, Renovierung, Instandhaltung, Möblierung und Versicherung der Wohnungen sind ein umfangreicher Teil der Verwaltung. Er wurde aus dem Nichts aufgebaut und funktioniert jetzt wie eine moderne Haus- und Wohnungsverwaltung. Um eine Vorstellung von dem Volumen zu bekommen sei erwähnt, dass jeden Monat fast 30.000,00 DM an Mieten fällig sind. Dieser Betrag muss auch bei uns von unseren Untermietern wieder eingehen.

Die Verwaltung des Anwesens Rohrbacher Straße 62, das der Stadt Heidelberg gehört, nimmt dabei eine Sonderstellung ein, da dort die Instandhaltung und die Reparaturen besonders viel Aufmerksamkeiten erfordern. Das Haus ist über 100 Jahre alt und müsste eigentlich von Grund auf saniert werden, was aber bei voller Belegung und der Finanzlage der Stadt vorerst nicht möglich ist. Zur Veranschaulichung sei gesagt, dass im Jahr 1996 über 40.000,00 DM an Handwerkerrechnungen bezahlt wurden. Diese Arbeiten mussten geplant, Kostenvoranschläge eingeholt, die Ausführung überwacht und die Rechnungen überprüft werden.

Der Verein verfügt z. Zt. über 106 Wohneinheiten, in denen 132 Mieter wohnen.

Beim Einzug in ein Zimmer, beim Beginn eines Mietverhältnisses ist es die Aufgabe des Betreuers, eines hauptamtlichen Sozialarbeiters oder eines ehrenamtlichen Helfers, für die Erledigung aller Formalitäten zu sorgen. In vielen Fällen müssen die ersten Gänge zum Sozial- oder Arbeitsamt gemeinsam mit dem Obdachlosen gemacht werden, um ihm die Schwellenangst vor Behörden zu nehmen - und auch um den Ämtern zu zeigen, dass sich der Verein um diesen Mann oder diese Frau kümmert.

Die Helfer handeln immer nach dem Prinzip, soviel Hilfe wie nötig, aber so wenig Hilfe wie möglich. Es muss aber auf jeden Fall verhindert werden, dass der Hilfesuchende erneut strauchelt und zu den vielen schon erlittenen Frustrationen noch neue hinzukommen. Andererseits muss der Hilfesuchende auch gefordert werden - denn wir wollen „Hilfe zur Selbsthilfe" leisten und keine bequeme Versorgung bieten.

Die Aufgabe der Mitarbeiter ist es ferner, dafür zu sorgen, dass die ehemals Obdachlosen eingegliedert werden. Das bezieht sich auf alle Lebensbereiche, angefangen von der Beschaffung eines Ausweises, Verhandlungen mit Ämtern und Behörden, Arbeitsbeschaffung bis zur Gesundheitsvorsorge und Schuldenregulierung.

Die Helfer besuchen unsere Mieter in ihren Zimmern. Sie warten nicht, bis diese kommen, sie gehen zu ihnen hin. Die Betreuer müssen im Umgang mit dem Obdachlosen mit sehr viel Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl vorgehen, um ihm seine verlorengegangene Würde zurückzugeben, um allmählich ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Das ist eine langwierige und schwierige Arbeit.

Unsere Mitarbeiter arbeiten selbstständig. Sie sind für die von ihnen betreute Wohngruppe verantwortlich. In den wöchentlichen Mitarbeitersitzungen wird über alle Sorgen und Nöte gesprochen und auch über gute Entwicklungen berichtet. Doch häufig reicht die Zeit nicht aus, und es müssen Einzelgespräche mit den Mitarbeitern geführt werden.

Nach unseren Erfahrungen können etwa ein Drittel der Schützlinge nach verhältnismäßig kurzer Hilfephase von ein paar Monaten wieder allein zurechtkommen. Manche bemühen sich auch um eine Wohnmöglichkeit außerhalb der Vereinswohnungen und melden sich nur noch sporadisch. Ein weiteres Drittel braucht über einen längeren Zeitraum die stützenden Maßnahmen des Vereins. Sie bleiben zwar bei uns wohnen, erlangen aber eine gewisse Selbstständigkeit und Sicherheit und übernehmen besonders in den Wohngruppen Sprecherfunktion oder Führungsposition, oder auch die Krankenpflege von Mitbewohnern. Ein letztes Drittel ist auf die Betreuung des Vereins angewiesen. Das sind vor allem Ältere und Kranke oder Alleinerziehende mit behinderten Kindern.

In den 10 Jahren seit Bestehen des Vereins sind 51 unserer Mieter an den Folgen des schweren Lebens auf der Straße gestorben. Nur einer war 60 Jahre alt, alle anderen jünger.

Nach der Vereinsgründung fehlten uns bald Betreuer. Wir hatten inzwischen 3 große Wohnungen im Hasenleiser, Einzelzimmer in verschiedenen Stadtteilen und 12 Zimmer in einem Haus in der Brückenstraße gemietet. Wir brauchten dringend Mitarbeiter, hatten aber kein Geld sie zu bezahlen. Da wurden wir auf die Förderung des Arbeitsamtes für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hingewiesen. Ich machte mich kundig, stellte entsprechende Anträge und der Verein bekam schon 1987 die erste Sozialarbeiterin, die wir nach drei Jahren fest angestellt haben. Lag auch die Förderquote des Arbeitsamtes damals bei 90 %, so fehlte uns doch die Confinanzierung der restlichen 10 %! Doch wir hatten Glück und fanden Spender mit deren Hilfe wir die Deckungslücke schließen konnten. Inzwischen hat der Verein 3,5 hauptamtliche Sozialarbeiter und 6 Teilzeitkräfte angestellt. Bisher gelang es, sie pünktlich zu bezahlen, auch mit Weihnachts- und Urlaubsgeld, den Tarifen für den Öffentlichen Dienst vergleichbar.

Ich hatte vor vielen Jahren einmal etwas über Buchführung gelernt, das kam mir bei der Vereinsarbeit sehr zugute. In ein Schulheft trug ich die Einnahmen und Ausgaben ein, es entstand eine einfache Buchführung, die chronologisch geordnet war und durch Belege nachgewiesen werden konnte. Als wir uns dann an die Stadt Heidelberg um Zuschuss für den Verein wandten, meldete sich ein Vertreter des Sozialamtes zur Rechnungsprüfung bei mir an. Er war sehr erfreut, als ich ihm meine kleine Buchhaltung mit geordneten Belegen zeigte, und er nicht eine Schuhschachtel mit Papieren zu sehen bekam. Aus dem Schulheft wurde im zweiten Jahr ein kleines Journal mit 20 Spalten und einer doppelten Buchführung. Seit 1995 buchen wir über ein Computerprogramm mit 3800 Buchungen im Jahr 1996.

Die Lohnbuchhaltung war für mich Neuland. Ich musste sie erlernen, und mit Hilfe von Frau Rothweiler gelang es mir, sie einwandfrei einzurichten und zu führen. Die Prüfungen des Finanzamtes und der Krankenkassen ergaben nie Beanstandungen. Heute bucht Herr Nolte über ein Lohnbuchhaltungsprogramm auf dem Computer, und ich brauche die vorbereiteten Meldungen für Finanzamt und Krankenkassen nur noch zu unterschreiben.

Zur Veranschaulichung des zu bewältigenden Umfangs sei gesagt, dass die Lohnsumme 1996 DM 247.000,00 betragen hat, dazu kommen die Arbeitgeberanteile von DM 42.000,00.

Seit der Verein Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband ist, muss er sich jedes Jahr von einem vereidigten Sachverständigen prüfen lassen und die ordnungsgemäße, sorgfältige und dem Vereinszweck entsprechende Verwendung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel nachweisen. Unsere transparente Buchhaltung und sparsame Geschäftsführung hat durch die Verleihung des Gütesiegels des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen in Berlin, einer Stiftung des bürgerlichen Rechts, ihre Bestätigung und Anerkennung gefunden. Nur 106 Vereine und Organisationen in der BRD dürfen dieses Siegel führen. Der Anteil der Verwaltungskosten liegt bei uns bei 8,7 % der Gesamtausgaben und ist damit nach DZI-Maßstab sehr niedrig. Es kommen also von jeder eingenommenen Mark 91,3 Pfennige dem Vereinszweck zugute, d. h. Hilfe an hilfsbedürftige Menschen zu geben. Das Spendensiegel ist für unsere Förderer und Spender ein Zeichen, dass das in den Verein gesetzte Vertrauen gerechtfertigt ist.

Da die von der öffentlichen Hand gewährten Zuschüsse nicht einmal unsere Lohnkosten decken, mussten wir uns nach weiteren Ressourcen umsehen. Ein Freund machte mich auf die Möglichkeit aufmerksam, Bußgelder von den Gerichten zugewiesen zu bekommen. Um dies zu erreichen, stellte ich Anträge und schrieb Berichte über die Arbeit und Erfolge des Vereins. Nach Aufnahme in die Liste des Oberlandesgerichtes Karlsruhe mussten die Heidelberger Richter und Staatsanwälte aufgesucht werden. Der Verein war inzwischen bei Gericht bekannt, weil die Mitarbeiter verschiedentlich Schützlinge zu Gerichtsverhandlungen begleitet hatten.

Hocherfreut registrierte ich die ersten Bußgeldzuweisungen, nicht ahnend, wie groß der notwendige Verwaltungsaufwand sein würde. Bei einer Bußgeldzuweisung von z. B. DM 1.000,00, zahlbar in Raten von DM 50,00, müssen dem Gericht 20 Mitteilungen über Zahlungen, bzw. auch über Nichtzahlungen, zugehen. Trotz dieser umfangreichen Arbeit sind wir für jedes uns zugewiesene Bußgeld dankbar.

Nach Prüfung unserer Satzung, unseres Konzeptes und unserer Angaben aus der Buchhaltung wurde der Verein als mildtätig und gemeinnützig vom Finanzamt anerkannt. Er ist berechtigt, für Spenden Spendenbestätigungen auszustellen, die steuerlich absetzbar sind. Der Verein verfügt dadurch indirekt über Steuergelder. Deshalb war und bin ich sehr darauf bedacht, dass Spenden und auch die Bußgelder nur für satzungsgemäße Zwecke verwendet werden.

Durch ständige Öffentlichkeitsarbeit versuchen wir, immer auf unsere Arbeit und die Not der Obdachlosen aufmerksam zu machen. Eine Strophe des Kinderliedes aus meiner Zeit als Lehrerin wurde zu unserem Slogan: "Liegst du in Deinen warmen Kissen, denk auch an die, die frieren müssen". Dazu zeichnete mir eine Graphikerin den „schlafenden Obdachlosen", der heute unser Logo ist.

Mit besonderen Aktivitäten, wie mit einer Ausstellung im Foyer des Rathauses, mit zwei Veranstaltungen in der Volkshochschule zum Tag der Obdachlosen, mit einer Dia-Reihe über unsere Wohngruppen, die vor allem immer wieder bei Vorträgen verwendet wird, traten wir an die Öffentlichkeit. Mit meiner Idee, eine Kunstauktion für den Verein zu veranstalten, gaben wir der Rhein-Neckar-Zeitung und dem Rundfunk Anlass zur Berichterstattung.

Die erste Kunstauktion 1994, die ich in der Galerie Melnikow plante, organisierte und durchführte, war für uns ein großer Gewinn. Es würde den Rahmen dieses Berichts sprengen, wollte ich alle Schwierigkeiten, die wir zu überwinden hatten, aufzählen. Es sei nur erwähnt, dass wir 2500 Adressen von potentiellen Kaufinteressierten bekommen hatten. Alle Adressen hatten noch alte Postleitzahlen, diese mussten berichtigt, und die Anschriften anhand von Adress- und Telefonbüchern überprüft werden. Um Porto zu sparen, wurden viele Briefe ausgetragen. Dabei halfen unsere Schützlinge mit.

Die zweite Kunstauktion 1996 brachte uns nicht im Traum erwartete Einnahmen und viel Publicity.

Ohne die Mitarbeit von Freunden und Bekannten wäre es gar nicht möglich gewesen, die Vorarbeiten zu bewältigen, um dann in 4 Stunden 205 Exponate reibungslos und mit großem Gewinn zu versteigern. Mein besonderer Dank gilt Peter Dübbers, der bei beiden Auktionen die Versteigerung vornahm. Der Erlös der Auktionen wurde und wird zur weiteren Wohnraumbeschaffung für Obdachlose verwendet.

Der Verein hat bereits zwei Eigentumswohnungen kaufen können. Bei den Wohnungen hatte ich Zuschüsse und günstige Finanzierungen über Aktion Sorgenkind, Glücksspirale und die Gefährdetenhilfe bekommen. Die Vorarbeiten für den Wohnungskauf füllen zwei große Leitzordner. Im Augenblick bemühe ich mich um zwei weitere Wohnungen, die im Wohnprojekt "Alte Stadtgärtnerei" zum Verkauf kommen werden.

Nach 10 Jahren Aufbauarbeit ist es gelungen, mit Hilfe unserer sehr engagierten Mitarbeiter, unserer Mitglieder, unserer Spender und Förderer und mit Unterstützung der Behörden der Stadt Heidelberg und des Rhein-Neckar-Kreises, die stets ein offenes Ohr für unsere Sorgen hatten, aus der Idee und der Privatinitiative eine Einrichtung zu schaffen, die z. Zt. 132 Menschen ein Zuhause und eine Heimat bietet. Von der Straße geholt haben wir aber über 300 Menschen, die heute wieder als unauffällige Bürger unter uns leben. Der Gedanke, für Obdachlose "betreutes Wohnen" anzubieten, ist inzwischen weit verbreitet und wird auch politisch sehr propagiert.

Das Besondere des Vereins besteht im Vergleich zu anderen Einrichtungen darin, dass Wohnen nicht für eine begrenzte Zeit sondern auf Dauer gewährt wird und auch darin, dass der Verein mehr bietet als nur das Dach über dem Kopf, nämlich die aufbauende Hilfe und die sehr persönliche Betreuung.

Es wird immer wieder gefragt, ob es opportun wäre, den Verein, d. h. das Wohn- und Hilfeangebot weiter und weiter zu vergrößern. Die Zahl der Obdachlosen wächst ständig, und die Nachfrage nach guten Wohnungen ist groß. Von daher wäre es geboten.

Es ist unser Ziel, wirklich nur solche Wohnungen anzubieten, die weit vom Asozialen entfernt sind und auch keine Häuser, die so groß sind, dass sie an Wohnheime erinnern und eine Anhäufung von Menschen mit sozialen Schwierigkeiten mit sich bringen. Aber ohne Betreuung kann keine Wohnung eingerichtet werden.

Die Arbeit als Betreuer erfordert, wie schon gesagt, besondere Fähigkeiten. Dazu gehören auch Standfestigkeit und konsequentes Verhalten. Betreuung kann man nicht zum Nulltarif haben. Deshalb muss sehr genau geprüft und abgewogen werden, ob der Verein neue Mitarbeiter anstellen kann. Das geht nur, wenn die Finanzierung gesichert ist. Wir haben nur 3½ hauptamtliche Vollzeitkräfte, sonst arbeiten bei uns Aushilfskräfte mit weniger als 45 Stunden im Monat. Dazu kommt viel ehrenamtliche Tätigkeit, es sind über 10.000 Stunden, die im Jahr geleistet werden. Doch ob man unbezahlte ehrenamtliche Arbeit fest einplanen kann, ist die Frage - aber bezahlbar ist die Arbeit in vollem Umfange nicht.

Ich wünsche mir für die nächsten Jahre, dass der Schwung der Gründungs- und Aufbauphase des Vereins erhalten bleibt und weiter in offenen Gesprächen zwischen Mitarbeitern und Verantwortlichen die Probleme der täglichen Arbeit besprochen werden, und nach der besten und möglichen Lösung für unsere Schützlinge gemeinsam gesucht wird. Und ich wünsche mir, dass wir weiter Freunde, Förderer und Spender finden, die die Arbeit des Vereins unterstützen und ermöglichen.
Ursula von Dallwitz-Wegner

  

 

Zur Lage von wohnungslosen Menschen und ihrer Betreuung in Wohngruppen ... (S. 18-20)

Charakteristisch für die Situation von sogenannten „Nichtsesshaften" oder „alleinstehenden Wohnungslosen", umgangssprachlich oft abschätzig als „Stadtstreicher" oder „Penner" bezeichnet, ist der Verlust bzw. die Nichtverfügungsmöglichkeit über eine eigene Wohnung oder ein eigenes Zimmer. Dies bedeutet für die davon betroffenen Personen den Verlust von Privatheit, von Rückzugs- und Entfaltungsmöglichkeiten und somit die Ausgrenzung aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Leben, und damit die Notwendigkeit, ein Leben unterhalb der Menschenwürde führen zu müssen.

Einher mit der Wohnungslosigkeit gehen der Verlust des Arbeitsplatzes, der bisherigen sozialen Beziehungen, materielle Armut und meist auch finanzielle Schulden und Krankheit, oft in Form von Drogenabhängigkeit durch Alkoholmissbrauch. Die soziale Isolation durch Ausgrenzung führt darüber hinaus meist zu schweren Kommunikationsstörungen und zur Resignation von Betroffenen.

Festzustellen gilt, dass Wohnungslosigkeit ein gesellschaftliches Phänomen ist, das sich nicht allein auf individuelle biographische Ursachen der davon betroffenen Personen zurückführen läßt. Wohnungslosigkeit ist die Erscheinungsform und zugleich die Ursache der Notlage der davon Betroffenen. Sie lässt sich daher überhaupt und nur durch die Bereitstellung von individuell nutzbarem Wohnraum lösen.

Eine von den Landeswohlfahrtsverbänden in Baden-Württemberg im Jahre 1992 durchgeführte Erhebung kam zu einer Stichtagsschätzung von ca. 17.000 alleinstehenden Wohnungslosen in Baden-Württemberg und zu der Feststellung, dass ca. 90 % der sogenannten Nichtsesshaften nicht mehr umherziehen, sondern sich ortsgebunden in ihrer jeweiligen Gemeinde aufhalten. Und eine 1990 in Niedersachsen durchgeführte Befragung von alleinstehenden Wohnungslosen nach der von ihnen gewünschten, unbefristeten Wohnform ergab, dass sich 67 % eine eigene, abgeschlossene Wohnung, und weitere 19 % ein möbliertes Zimmer wünschten.

Ohne fremde Hilfe ist ihnen dies jedoch nicht möglich. Diese Hilfe zu geben, hat sich der Verein „Betreute Wohngruppen für alleinstehende Menschen e. V." zur Aufgabe gemacht, indem er auf der Straße stehenden Wohnungslosen separate Einzelzimmer und Zimmer in Mehrzimmerwohnungen anbietet und ihnen durch begleitende Betreuung beisteht.

Am Anfang steht die Kontaktaufnahme zu dem betreffenden Wohnungslosen und die Abklärung seiner früheren und momentanen Lebenssituation und seiner Zukunftsperspektiven. Ist die Unterbringung in einem Einzelzimmer einer Wohngruppe vorgesehen, so ist abzuschätzen, wieweit Persönlichkeits- und Altersstruktur der künftigen Mitbewohner sich nicht gegenseitig ausschließen bzw. ein Zusammenleben nicht von vorne herein zu schwierig werden lassen. Hiernach kommt es zum Abschluss eines Untermietvertrages, zur Durchsprache der Hausordnung und zu einer besonderen Vereinbarung, die die Mitarbeit im Hilfeprozess beinhaltet.

Individuellen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, ist jedoch nur der erste Schritt im Hilfeprozess zu einem menschenwürdigen Leben und zu einer möglichst eigenständigen und selbstbestimmten, befriedigerenden Lebensführung. Aufgrund der oft durch jahrelange Wohnungslosigkeit verursachten meist erheblichen Defizite in verschiedenen Bereichen und/oder fortgeschritteneren Alters benötigen die meisten für längere Zeit kontinuierliche persönliche Hilfen. Ziel ist und bleibt dabei die Hilfe zur Selbsthilfe.

Welche Hilfen im Weiteren in ihrer möglichen Vielfalt konkret notwendig sind, möchte ich im Folgenden stichwortartig skizzieren:

Beratung und Hilfe bei der Einrichtung und Gestaltung des Zimmers und des Wiederwohnens, Beschaffung von Hausrat und Einrichtungsgegenständen;

Beratung und persönliche Begleitung bei Behörden- und Ämtergängen wie z. B. Sozialamt, Bürgeramt, Arbeitsamt, Krankenkasse, Gesundheitsamt, Versorgungsamt, Rentenberatungsstelle, Finanzamt, Staatsanwaltschaft und Gericht; Aufklärung über Rechte und Pflichten;

Hilfestellung beim Verständnis und beim Ausfüllen von Formularen und Anträgen, wie z. B. Sozialhilfe, Arbeitslosengeld/Arbeitslosenhilfe, Wohngeld, Krankenversicherung, Hilfe zur Befreiung von der Rezeptgebühren- und der Rundfunkgebührenpflicht, bei der Telefongebührenermäßigung, Klärung von Rentenversicherungszeiten und Rentenantragstellung, Abgabe von Einkommenssteuererklärungen; Hilfe bei der Beschaffung von Ausweispapieren wie Geburtsurkunde, Personalausweis, Schwerbehindertenausweis, Familienpass;

Hilfe zur Arbeit: Motivierung zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft, Beratung bei der Arbeitsplatzsuche, Bewerbungstipps, Erstellung eines Lebenslaufes und Formulierungshilfe bei schriftlicher Stellenbewerbung, Kontaktaufnahme zur Firma bei Schwierigkeiten am Arbeits- oder Ausbildungsplatz, Bestätigung des eigenen Leistungsvermögens;

Beratung und Hilfestellung in Finanzangelegenheiten: Hilfe bei der Einteilung des meist geringen Einkommens durch Geldauszahlungen, Anleitung zu sparsamer Lebensführung, Übernahme der Kontoverwaltung und Erledigung der monatlichen Zahlungsverpflichtungen, Beratung zur Schuldenregulierung und Verhandlungen mit den Gläubigern, Weitervermittlung und Begleitung zu einer Schuldenberatungsstelle, Darlehensgewährung, Hinführung zu eigenständiger Geldverwaltung, Geldanlageberatung;

Gesundheitliche Hilfen: Beratung in Ernährung und Gesundheitsfragen, Einkaufshilfe, Motivation und Begleitung zu Hausarzt- und Facharztbesuchen, Krankenhausbesuche und Arztgespräche; Vermittlung von Krankheitseinsicht bei Suchtkrankheiten und Motivation zur Annahme der Angebote der Suchtkrankenhilfe wie Entgiftungs- und Rehabilitationsmaßnahmen, Kuren und Selbsthilfegruppen; Einleitung und Überwachung von Maßnahmen zur häuslichen Pflege durch Sozialstationen, Essen auf Rädern, Putz- und Wäschediensten, um im Krankheits- oder Pflegefall die häusliche Versorgung auf längere Zeit gewährleisten zu können; Antragstellung und Vermittlung von Pflegeeinrichtungen;

Anregungen zur individuellen Freizeitgestaltung und Durchführung von gemeinschaftlichen Freizeitaktivitäten, wie jahreszeitliche Feiern (Ostern, Weihnachten), Grillfeste, Diaabende, Ausflüge in die nähere Umgebung, Tiergarten-, Zirkus-, Minigolf- und Schwimmbadbesuche, die zur Überwindung von Isolation durch neue Kontaktmöglichkeiten untereinander beitragen, zur Förderung der Lebensfreude und zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben;

Hilfen bei der Entwicklung der Gemeinschaftsfähigkeit in der Wohngruppe durch Förderung von gegenseitigem Verständnis, von Toleranz und Hilfsbereitschaft; Vermittlung bei der Klärung von Konflikten im Zusammenleben; Unterstützung bei der Organisation von gemeinschaftlichen Hausdiensten;

Persönliche Hilfe: Förderung des Selbstwertgefühls; seelisch-geistiger Beistand durch Lebensberatung und Krisenintervention, Hilfen bei der Vergangenheitsbewältigung und in Verwandtschaftsangelegenheiten; hierbei kommt der Dauer und der Tragfähigkeit der Beziehung zwischen Betreuer und Betreutem besondere Bedeutung zu;

Hilfe bei der Suche nach Wohnraum über Wohnungsbaugenossenschaften und auf dem freien Wohnungsmarkt; Anzeigenschaltung.

Mit den vorgenannten Ausführungen hoffe ich veranschaulicht zu haben, worum es bei der Betreuung von alleinstehenden und vormals wohnungslosen Menschen geht; weiter, dass die Betreuung ganzheitlich ausgerichtet sein muss, um das psychische und materielle Elend der Betroffenen zu lindern.

Gerade angesichts der heutigen hohen und weiter zunehmenden Arbeitslosigkeit und der damit einhergehenden Verarmung von immer mehr Menschen und in Verbindung mit der Stagnation im sozialen Wohnungsbau und dem fortschreitenden Abbau von Sozialleistungen kommt der Verhinderung von Obdach- und Wohnungslosigkeit vermehrt Beachtung zu, und dies um so mehr jedoch den jeweils schon - bildlich gesprochen - in den Brunnen gefallen Menschen, die im Regen und in der Kälte stehen, denen der Verein sich in besonderer Weise angenommen hat. Hier ist jeder Einzelne und die Gesellschaft im Ganzen gefordert, insbesondere jedoch die Kommunen durch die Schaffung und Bereitstellung von ambulant betreutem und unbefristetem Wohnraum.
Heinz Jäger, Dipl.Soz.Arb. (FH)

  

 

Wie ich den Verein sehe ... (S. 21)

Seit Jahren beschäftigt mich das Thema Obdachlose. Akuter Anlass war, gegen die Stadtrandverbringung zu protestieren. Damals wurden Obdachlose, wenn sie auffielen, von der Polizei irgendwo weit in der „Natur" abgesetzt und dort ihrem Schicksal (Entzug und anderen gesundheitlichen Problemen) überlassen. Pfarrer Alpermann richtete dann die monatlichen Treffen zwischen Obdachlosen und anderen Bürgern mit Gesprächen, warmer Suppe, Kaffee und Kuchen, Kleiderkammer ein. Dies war eine Möglichkeit, sich gegenseitig kennenzulernen. Ich traf dort Menschen mit Schicksalen, die auch mich hätten treffen können. Es war mir wichtig, etwas zu tun gegen „weil du arm bist, musst du früher sterben". Dazu war eine Lobby für die Obdachlosen nötig. Nach dem Weggang von Pfarrer Alpermann übernahm diese Rolle dann mehr und mehr der Verein „Betreute Wohngruppen e. V.".

Ich hatte Menschen kennengelernt, deren Wohlergehen mir am Herzen lag. Die menschlichen Beziehungen sind wichtig aber ohne Einfluss und Geld geht Vieles nicht.

Wenn Frau von Dallwitz als Vorsitzende des Vereins sich um eine Wohnung für einen Schützling bemüht, hat dies mehr Aussicht auf Erfolg, als wenn es Frau „XY" tut. Werden von einer Firma Zusagen beim Kauf einer gebrauchten Waschmaschine nicht korrekt erfüllt, erreicht die Vorsitzende des Vereins, daß die zuviel gezahlten Gebühren zurückerstattet werden. Geht es darum, mit einem Alkohol-Kranken eine Therapie-Einrichtung anzusehen, um ihn zu ermutigen, der Verein hilft und übernimmt die Reisekosten. Begleitungen zum Arzt, Besuche im Psychiatrischen Landeskrankenhaus, Wiesloch, wären ohne Erstattung der Fahrtkosten für die Helfer nicht möglich.
So ersetzt der Verein oft eine gut funktionierende Familie.

Gisela Schulze

  

 

Die Sache mit Peter ... (S. 22-23)

Peter ist jetzt 36 Jahre alt.
Seit einem Jahr hat er ein Zimmer beim Verein „Betreute Wohngruppen e. V.„. Ohne dieses Zimmer oder eine andere, ähnliche Unterkunft wäre er wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Er lebte auf der Straße, und sein Alkoholkonsum hatte solche Ausmaße angenommen, dass ihm nach einem Zusammenbruch in der Klinik versichert wurde, er würde sterben, wenn er nichts ändern würde.
Seine Vorgeschichte ist typisch für viele Menschen in seinem Alter, vor allem für solche, die kein Dach mehr über dem Kopf haben. Nach seiner Ausbildung zum Schlosser fand er keine Stelle in seinem Beruf und arbeitete in einem chemischen Betrieb. Er bekam gesundheitliche Probleme, und nach sieben Jahren gab er die Arbeit auf. Seine Ehe scheiterte nach drei Jahren, er verlor die Wohnung, er wurde straffällig und kam ins Gefängnis.

Der einzige Halt, den er danach fand, war die Gruppe derer, denen es ähnlich gegangen war wie ihm, und der Alkohol. Zusammen mit anderen Obdachlosen lebte er in einem Container und bezog Arbeitslosengeld, so dass die Beschaffung von Alkohol kein Problem darstellte.

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass jemand ohne Arbeit auf dem üblichen Weg kaum eine Wohnung findet. Kommt Alkoholabhängigkeit hinzu, hat er gar keine Chance, denn die Sucht läßt kein Geld für die Miete übrig.

Nach seinem Klinikaufenthalt beschloss Peter, sein Leben zu ändern. Dazu war es notwendig, sich von der Gruppe der Containerbewohner zu distanzieren, eine Wohnung zu finden und natürlich, weniger zu trinken.

Bei der Suche nach einem Zimmer wurde er von der Anlaufstelle des Sozialdienstes Katholischer Männer unterstützt, und in Zusammenarbeit mit dem Verein konnte er zunächst bei einem Bekannten in einer Wohngemeinschaft untergebracht werden.

Alsbald ergab sich die Gelegenheit, ein eigenes Zimmer zu beziehen. Peter war damit einverstanden, dass sein Geld vom Mitarbeiter des Vereins verwaltet wird, so dass die monatliche Miete gesichert war und darüber hinaus eine gewisse Kontrolle seines Lebenswandels möglich wurde. Dies war notwendig, weil sowohl sein psychischer als auch sein physischer Zustand nicht als stabil bezeichnet werden konnte.

Peter begann schnell, sich in seinem Zimmer wohlzufühlen und Vertrauen zum Verein und zu dem Mitarbeiter des Vereins zu fassen. Er begann sich einzureihen.

Für ihn war es wichtig, einen Ansprechpartner zu haben, der bei anstehenden Problemen behilflich war, damit überhaupt die Möglichkeit gegeben war, diese sofort lösen zu können und nicht erst dann, wenn es zu spät war. Durch das Vorhandensein einer festen Unterkunft wurde es auch möglich, die notwendige ärztliche Versorgung zu gewährleisten.

Peter kam zur Ruhe und fing an, sich Gedanken über sich selbst, über die eigene Situation und auch über seine Zukunft zu machen, anstatt lediglich mit der Beschaffung von Alkohol und dem Konsum von Alkohol beschäftigt zu sein.

Peter ist mittlerweile in der Lage, seinen Alkoholkonsum zu kontrollieren und es bei dem „Nahrungsmittel" Bier zu belassen, auch dann, wenn sich einige Besucher damit nicht zufrieden geben. Er geht sogar weit, diese, wenn es sein muss, höflich dazu aufzufordern, sein Zimmer zu verlassen, auch mit dem Hintergrund, Konflikte bereits im Vorfeld zu vermeiden.

Peter hat es geschafft, sich von den ehemaligen Bekannten abzugrenzen, sich einen neuen Lebensraum zu schaffen und seine vielleicht letzte Chance im Rahmen seiner individuellen Fähigkeiten zu nutzen. Dabei ließ er sich unterstützen und mit Hilfe der Geldeinteilung konnten er sich Dinge anschaffen, die es ihm ermöglichen, seinen Alltag abwechslungsreicher zu gestalten.

Gerade für von Arbeitslosigkeit Betroffene ist dies von großer Wichtigkeit. Wer die Situation kennt, weiß, wovon die Rede ist. Manch andere mögen schweigen und nachdenken.

Sicherlich stellt sich die Frage, ob eine berufliche Wiedereingliederung möglich gewesen wäre. Unter Berücksichtigung der momentanen Arbeitsmarktsituation, in diesem Fall mit dieser Vorgeschichte, mag sich jeder selbst Gedanken darüber machen, ob dies das Ziel hätte sein können.

Peter sieht sein Ziel mittlerweile selbst. Es konnten Rahmenbedingungen geschaffen werden, die ihm einen Wiedereinstieg ins berufliche Leben erleichtern. Ihm wurde die Möglichkeit gegeben, die eigenen Fähigkeiten besser einzuschätzen, sein soziales Verhalten zu überdenken, seinen Alltag zu strukturieren und zur Lösung rechtlicher, finanzieller und persönlicher Probleme konstruktiv beizutragen.

Thomas Bayer, Dipl.Soz.Arb. (FH)

  

 

Die Sache mit Herrn A. ... (S. 24-25)

Das war im Jahre 1978 beim Fernmeldeamt Heidelberg bei der Vollstreckungsstelle für offenstehende Fernmeldegebührenforderungen. Ich war damals die Leiterin dieser schreckenerregenden Dienststelle, als eines Tages eine Dame anrief, die gerne wegen einer rückständigen Fernmelderechnung eines in Not geratenen Menschen verhandeln wollte. Wir berieten, wie man diese immerhin 1.700,00 DM Schulden auf die schmerzloseste Weise abtragen könnte, zumal Herr A. zwar zahlungswillig war, aber die Summe seiner gesamten Verpflichtungen ihn hatte mutlos werden lassen. So kam er mit Frau Klages in Kontakt, die sich nun für ihn verwendete und alle Gläubiger mutig anging.

An sich war Herr A. lange Jahre ein ruhiger, unauffälliger Mensch gewesen, der still seiner Arbeit nachging und der sich bestimmt nie Gedanken darüber machte, dass auch er eines Tages ohne Obdach auf der Straße leben könnte. Aber dann ging seine Ehe in die Brüche, die Frau ließ sich scheiden, die beiden Söhne zogen fort und die Einsamkeit begann, ihn zu zermürben. Selbstvorwürfe und quälende Fragen um das WARUM, auf das er und auch sonst niemand ihm eine brauchbare Antwort geben konnte. Mit Alkohol versuchte er seine Probleme zu vernebeln. So kam es, dass er auch noch seine Arbeit verlor; er konnte bald die Miete nicht mehr zahlen, die Unterhaltsverpflichtungen mussten unerfüllt bleiben und Forderungen prasselten von allen Seiten auf ihn hernieder. Herr A. floh in eine andere Stadt, nach Heidelberg. Aber er hatte keine Wohnung, die Gläubiger hatten längst alles Brauchbare aus seiner letzten Wohnung herausgeholt, ihn arm gemacht und sie hatten das Recht voll auf ihrer Seite. Das wusste Herr A., und diese Erkenntnis machte ihn nicht, wie so viele andere, zu einem Menschen, der aus lauter Verzweiflung zu einem wilden Schlägertypen wird, nein, er suchte nur etwas Wärme, menschliches Verstehen, eine kleinen Schutzmantel, um seine verwundete Seele nicht noch mehr frieren zu lassen. Ein guter Stern lenkte seine müden Füße in die Wärmestube; hier gab es etwas zu essen, man konnte seinen Körper für begrenzte Zeit einem Wohlgefühl hingeben, das schon nicht mehr für jemanden wie ihn bestimmt zu sein schien. Aber Herr A. hielt sich nach Möglichkeit abseits von den Anderen und lehnte allein an einem Türpfosten auf dem Flur. Ein guter Stern fügte es, dass Herr A. einen Menschen fand, der ihm zuhörte, ihn ernst nahm und seine Sorgen teilte. Frau Klages besorgte ihm ein einfaches, dunkles Zimmer. Nachdem er dann die nötigen Dinge mit Frau Klages Hilfe geregelt hatte, und er regelmäßig seine Rente bekam, schlug Frau Klages Herrn A. vor, doch selbst zur Beitreibungsstelle zu gehen und die Dame kennenzulernen, die so bereitwillig mit kleinen Ratenzahlungen einverstanden war. Frau Klages wollte ihm die Scheu vor Menschen behutsam austreiben und ihm das Gefühl der Selbstachtung wiedergeben, ohne die niemand so ganz zurecht kommt in diesem harten Leben der Püffe, Tritte und Stolpersteine, die einem manchmal schon das Genick brechen können.

Eines Tages erschien Herr A. zurückhaltend und freundlich in der Beitreibungsstelle, besprach mit mir seine Lage und erzählte mir seine Lebensgeschichte. Er wirkte wie jemand, dessen Wunden erst eine sehr dünne Schicht aufgebaut hatten und die man nicht zerreißen durfte, sollte der Heilungsprozess erfolgreich zuende kommen. Herr A. versicherte immer wieder, dass er die ausgehandelten kleinen Tilgungsraten bestimmt jeden Monat pünktlich erfüllen werde, dass er dabei sei, dank Frau Klages, den Glauben an die Menschen wiederzugewinnen, aber die finanziellen Kletten aus seiner unglücklichen Lebensphase müsse er nun halt nacheinander absammeln.

Herr A. kam nun öfters, es reicht manchmal auch zu einer Tasse Kaffee und einem Schwätzchen, und eines Tages teilte er mir strahlend mit, Frau Klages habe eine kleine, aber sehr schöne Wohnung für ihn gefunden, da möchte er mich doch gerne einmal zu sich nach Hause einladen. Ich konnte erahnen, was es für Herrn A. bedeutete, wieder eine schöne Wohnung zu haben, jemanden einfach zu sich einladen zu können, das war alles so lange entbehrt worden.

So besuchte ich Herrn A. in seiner neuen Wohnung. Da glänzte alles vor Sauberkeit, stolz zeigte er mir die Möbel, die er teils günstig gekauft, teils geschenkt bekommen hatte. Seine größte Freude war die Stereoanlage; endlich konnte er wieder gute Musik hören, sich eine glücklichere Zukunft erträumen und allmählich die Schrecken der Straße in die letzte Schublade seiner Erinnerungen verbannen. Er nahm wieder Kontakt zu seinen Söhnen auf, er trat auch wieder in Verbindung mit seiner Frau.

Herr A. war zeitlebens ein Mann, der alles sehr genau nahm. Er führte Buch über seine Ausgaben, er sprach seine Tageserlebnisse auf ein Diktiergerät, das er immer bei sich hatte und brachte das Wichtigste daraus zu Papier. So schaffte Herr A. das schier Unglaubliche, sich selbst zu analysieren und seine Fortschritte in der eigenen Resozialisierung beobachten zu können. Herr A. war zufrieden, sich auf dem richtigen Weg zu wissen.

Langsam verlosch ein Schuldenkonto nach dem anderen, seine freiwilligen Zahlungen wurden von etlichen Gläubigern damit honoriert, dass sie ihm einen Teil der Schuld schließlich erließen, denn pfändbar wäre bei seinen kleinen Renteneinnahmen ohnehin nichts gewesen. Es war auch für mich sehr schön zu wissen, dass seelische Hilfe doch öfters große positive Kräfte in einem Menschen auslösen kann, er muss nur erst dort hingeführt werden.

So verbrachte Herr A. noch einige glückliche Jahre. Er konnte sogar in eine größere Wohnung umziehen, in der er sich völlig zufrieden und wohl fühlte. Allerdings war seine Gesundheit von der bösen Zeit her angeschlagen, bald konnte er nicht mehr die zwei Stockwerke hinuntergehen, Frau Klages oder ihre Helfer und Helferinnen kauften für ihn ein und versuchten, ihm, dem inzwischen 70jährigen, das Leben so gut wie möglich zu erleichtern. Im Jahre 1993 verlosch sein Lebenslicht, Herr A. starb in seiner schönen Wohnung unter ganz „normalen" Umständen; der Tod auf der Straße war ihm dank der Mithilfe einiger gütiger Menschen erspart geblieben.

Erika Kurtzahn

  

 

Die Geschichte von Frau L. ... (S. 26)

Die Betreuung von Frau L., eine unserer weiblichen Schützlinge, konnte erst aufgenommen werden, als sie nach einem Verkehrsunfall mit gebrochenem Bein in der Chirurgie lag.

Sie war lange vorher durch die höfliche Art auffällig geworden, mit der sie auf der Straße Leute um eine Mark anbettelte und sich gleich darauf Notizen in einem Oktavheft machte. - Den Rucksack auf dem Rücken und die ISO-Matte unterm Arm, so sah man sie durch die Stadt streifen.

Besonders eine Pfarrersfrau, die auch zum Verein „Betreute Wohngruppen e. V." Kontakt aufgenommen hatte, bevor sie von Heidelberg fortzog, bemühte sich sehr um Frau L. und machte eine Wohnung für sie ausfindig. Aber alle Mühe scheiterte, weil Frau L. lieber auf dem Kellertreppenabsatz des Kindergartens nächtigen wollte. In die Wohnung war sie zwar nach gutem Zureden eingezogen, empfand das Ganze aber dann doch eher als Zumutung und verbrachte ihre Nächte weiterhin im Freien, auch im Winter, denn gegen Kälte ist sie unempfindlich (daher auch ihr Standardanzug: Sweatshirt und Jogginghose mit Turnschuhen).

Diesen leicht ungewöhnlichen Lebensgewohnheiten sollte nun der Verkehrsunfall abrupt ein Ende und eine intensive Betreuung nötig machen, denn Frau L.’s finanzielle und persönliche Dinge waren zu regeln, während sie in der Klinik lag. Danach wurde auch die medizinische Betreuung zum Problem, da Frau L. nicht in der Chirurgie bleiben und nicht ohne Wohnsitz entlassen werden konnte. Mit ihrem Gipsbein war sie ja völlig hilflos, aber schließlich fand sich die Schmerzklinik in Bad Schönborn bereit, Frau L. aufzunehmen und zu pflegen. Für die Betreuung durch den Verein bedeutete dies lange und häufige Fahrten, um den Kontakt zu Frau L. aufrechtzuerhalten, sie mit den Dingen des täglichen Bedarfs zu versorgen und ihr das Taschengeld vom Sozialamt Heidelberg zu bringen.

Nach etwa 7 Monaten war es dann möglich, sie in einem schönen, sonnigen Zimmer in Heidelberg unterzubringen, das der Verein „Betreute Wohngruppen e. V." für sie zur Verfügung stellte. Das Zimmer gehörte zu einer Wohnung, die noch von zwei anderen Frauen bewohnt wurde. Die Drei gewöhnten sich nie aneinander, aber Frau L. fand sich ab, bis ihr Bein wieder heil war. Danach hielt sie sich wenig im Haus auf, sondern wanderte wieder durch Heidelberg.

Letztendlich fand Herr Hepp von der Wohnungsstelle des Sozialamtes die Lösung, in dem er für Frau L. ein kleines separates Appartement in einem Vorort fand, wo sie jetzt ruhig und ungestört, auch weitgehend zufrieden lebt und vom Verein „Betreute Wohngruppen e. V." mit einem wöchentlichen Besuch betreut werden kann.

Sigrid Funk

  

 

Endlich ein festes Dach über dem Kopf ... (S. 27-31)

Anfang März fand ich in einem ehemaligen Hotel, dessen Räume einzeln an unterschiedlichste Leute vermietet waren, zufällig ein leeres Zimmer. Ich traf den Vermieter und er überließ mir gegen Zahlung einer Wohnungsmiete und einer Kaution das Zimmer. Der Mann, der dieses Zimmer bezog, war lange Zeit wohnungslos gewesen. Er hatte im Jahr vorher einige Wochen im Wichernheim verbracht, war dort aber gescheitert. Nun wollte er es mit einem eigenen Zimmer versuchen, da ihm das Leben auf der Straße nie gefallen hatte, er es aber nach dem Verlust seiner früheren Wohnung allein nicht schaffte, wieder ein „Dach über dem Kopf" zu bekommen.

Da Herr X., 41 J., vor seiner wohnungslosen Zeit fest gearbeitet hatte, bestand bei ihm ein Anspruch auf Arbeitslosengeld. Wir eröffneten ein Konto und stellten danach einen Antrag auf Arbeitslosengeld sowie einen Antrag auf Wohngeld.

Nun dauerte alles sehr lange. Für Herrn X. bedeuteten das schwere Wochen, da er ganz auf mich angewiesen war. Ich schoss ihm pro Tag DM 10,00 vor, gerade den Betrag, den er nach Abzug der Miete (DM 310,00) für das kleine, einfach möblierte Zimmer von 12 qm noch zum Leben übrig hatte. Es war ihm sehr unangenehm, ständig auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, und es kostete mich immer wieder Überredungskunst ihm klarzumachen, dass das alles schon in die Reihe kommen würde, und er mir dann das Geld zurückzahlen könnte. Da er Alkoholprobleme hatte, gab es durch diese unklaren und ärgerlichen Situationen immer wieder Augenblicke, wo er nur noch mit Alkohol seine Sorgen vergessen konnte.

Die erste Geldzahlung durch das Arbeitsamt verzögerte sich weiter. Als nach drei Wochen noch kein Geld angewiesen war, machte ich mich auf den Weg zum Arbeitsamt, musste mir dort aber sagen lassen, daß die Akte im Augenblick nicht aufzufinden sei. Ich machte dem Sachbearbeiter klar, wie wichtig die Überweisung für uns sei, da schon die zweite Mietzahlung anstand, und dass ich das Arbeitsamt nicht eher verlassen würde, bis ich eine konkrete Auskunft erhalten hätte. Nach etwa einer halben Stunde war die Akte gefunden, und ich konnte in der 2. Etage Einsicht in sie nehmen. Da gab es einen Vermerk: „Das Geld wird weiterhin postbar angewiesen." Warum also ein Konto eröffnen müssen, wenn dann irgendein Sachbearbeiter entscheidet, das Geld doch postbar auszuzahlen? Es ging so nur wertvolle Zeit verloren.

Nachdem nun alles in Ordnung zu sein schien - der Anspruch auf das Arbeitslosengeld wurde bestätigt - wollten wir das Herrn X. zustehende Geld ausgezahlt haben. Das war nun wiederum wegen der fortgeschrittenen Tageszeit nicht mehr möglich, aber für den nächsten Tag wurde uns die volle Auszahlung zugesichert. Herr X. bat mich nun, am nächsten Tag wieder mitzukommen, da er das viele Geld nicht selbst in Empfang nehmen, sondern mir gleich übergeben wollte. Es handelte sich um ca. 800,00 bis 900,00 DM. Die Auskunft „über die ganz Summe" erwies sich am nächsten Tag leider als falsch - er bekam nur eine Abschlagszahlung von 300,00 DM, der Rest sollte dann postbar ins Haus kommen! Erst nach einigen Monaten spielte sich die Zahlung ein, nachdem die Postbarzustellung mehrmals nicht richtig klappte und endlich die Überweisung auf das Konto vom Arbeitsamt akzeptiert und praktiziert wurde.

Seit dieser Zeit verwalte ich das Konto, sorge für pünktliche Mietüberweisung und zahle Herrn X. meist 2 Mal wöchentlich die ihm zustehende Summe aus. Seit sich dieses alles so eingespielt hat, ist Herr X. recht gut in der Lage, sein Leben zu meistern. Er hat sein Alkoholproblem im Griff, weiß, dass er seine Wohnung nicht verliert und mit seinem wenigen Geld einigermaßen zurechtkommt. Er litt im ersten Jahr nur unter der Arbeitslosigkeit, war aber schwer zu vermitteln, da er oft Kreislaufstörungen hatte. Gemeinnützige Arbeit durfte er nicht machen, da er wegen der Höhe seines Arbeitslosengeldes (14tägig DM 343,00) keine ergänzende Sozialhilfe bekam, die wiederum die Voraussetzung für die Genehmigung von gemeinnütziger Arbeit ist.

Für Herrn X. ergab sich aber ein kleiner Aufgabenkreis dadurch, dass in dem Haus, in dem er wohnte, von Spendengeldern eine Waschmaschine angeschafft wurde, deren Betreuung er übernahm. Außerdem machte er sich in anderer Weise nützlich: Er nahm ab und zu einen anderen Wohnungslosen auf, der bei ihm übernachtete und auch verpflegt wurde. Wenn das gut ging, sorgte ich dafür, dass der jeweilige Gast ein eigenes Zimmer bekam. Ich kannte den Betreffenden dann schon durch meine Besuche bei Herrn X. und wusste, wie er sich verhielt.

Eines Tages war bei Herrn X. dann eine von der Natur sehr benachteiligte, ältere, behinderte Frau zu Besuch. Sie war Witwe, 49 Jahre, mit einer kleinen Rente, die von ihrer Mutter verwaltet wurde. Bis zu dieser Zeit hatte sie einen alten Mann versorgt und auch bei ihm gewohnt. nachdem dieser Mann ins Altenheim kam, verlor sie ihre Bleibe. Herr X traf sie unterwegs und bot ihr an, vorläufig bei ihm zu bleiben, damit sie nicht auf der Straße schlafen musste. Die Verhältnisse waren sehr beengt, aber die beiden vertrugen sich ganz gut und kochten zusammen. Frau Y. konnte ab und zu von dem Geld, das ihr ihre Mutter gab, etwas zum Lebensunterhalt beisteuern. (Bei ihrer Mutter konnte sie nicht wohnen, da diese schon eine Enkeltochter in ihrer kleinen Wohnung versorgte).

Nach einiger Zeit wurde ein Zimmer in der Etage von Herrn X. frei und ich sorgte dafür, dass Frau Y. dort einziehen konnte. Ich besuchte nun mit Frau Y. die Mutter und legte ihr dar, dass Frau Y. jetzt von ihrer Rente 404,00 DM) die eigene Miete von 310,00 DM bezahlen müsse und dass wir einen Antrag auf ergänzende Sozialhilfe und Wohngeld stellen würden. Die Mutter hatte bisher einen Teil der Rente für sich oder ein anderes Familienmitglied verwendet. Sie war aber nun mit allem einverstanden. Wir beantragten einen Dauerauftrag für die Miete von Frau Y.’s Konto sowie ergänzende Sozialhilfe, und ich verwaltete die Einnahmen. Frau Y. bekam zweimal wöchentlich ihr Geld und war recht zufrieden mit ihrer Lage.

Es dauerte nicht lange, da hatte Herr X. wieder jemanden zu Besuch, der sich auch als Aspirant für ein Zimmer qualifizierte. Wir fanden für ihn ein möbliertes Privatzimmer über den SKM, der sich freundlicherweise auch um die Abwicklung der Formalitäten kümmerte. Leider verlief die Sache nicht befriedigend, da sich die Vermieterin, eine schon recht betagte Frau, nicht mit Herrn F., 49 J., anfreundete. Sie sah an seiner Kleidung, wie auch an seinem kargen Hausrat und den fehlenden Büchern, dass er nicht aus ihrem Milieu stammte. Sie ließ Herrn F. wissen, dass er sich baldmöglichst ein anderes Zimmer suchen sollte. Das bedrückte Herrn F. sehr. Er machte sich so unscheinbar wie möglich. Morgens um 7 Uhr, bevor die Vermieterin aufstand, verließ er leise die Wohnung, um erst abends, nachdem die Vermieterin vor dem Fernseher saß, wieder in sein Zimmer zurückzuschleichen. Er benutzte weder die Küche noch das Bad und lief deshalb wieder ebenso verwahrlost herum wie während seiner Wohnungslosigkeit. Sein Tagesaufenthaltsort war weiterhin der Bahnhof, sein Essen gab ihm die Bahnhofsmission. Daneben kannte er nur den Alkohol. Er musste nicht draußen schlafen, war aber sehr unglücklich und schämte sich seines Daseins. Als er endlich nach einigen Monaten in eine Wohngruppe einziehen konnte, war er naturgemäß sehr froh.

Es vergingen nach Herrn F.’s Auszug bei Herrn X. wieder nur einige wenige Tage, bevor bei letzterem ein neuer Besucher auftauchte. Er kam nur abends und ging ganz früh wieder. Herr W., 47 J., ein ehemaliger Sinti, hatte das Glück, öfter bei einer Hausverwaltung Gelegenheitsarbeiten verrichten und so seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können. Nachdem er mich kennengelernt und Vertrauen gefasst hatte, fragte er an, ob ich ihm ein Zimmer beschaffen könne. Er wollte es selbst bezahlen und schon gleich mit dem Sparen anfangen. Ich sollte ihm auch ein Konto einrichten. Nach einiger Zeit wurde im gleichen Haus ein „preiswertes" winziges Zimmer frei (280,00 DM), das er dann beziehen konnte. Es klappte auch mit dem Geld, das er fleißig zusammensparte. Nach nicht sehr langer Zeit bar er mich, mit seinem Chef zu telefonieren. Dabei erfuhr ich, dass der Chef vorgesehen hatte, ihn - wenn er weiter zuverlässig arbeiten würde - in etwa 3 Monaten fest einzustellen. Er wollte außerdem wissen, was ich für eine Funktion hätte und fand es sehr gut, dass ich für Herrn W. das Geld verwaltete und mich etwas um ihn kümmerte. Herr W. hatte Alkoholprobleme und ab und zu fiel er morgens bei der Arbeit aus, wenn er mal abends zuviel getrunken hatte.

Es dauerte nicht lange, da bekam Frau P. Besuch von einer Rentnerin, die schon 70 Jahre, gehbehindert, aber geistig noch munter war. Diese Frau lebte - seit ihr Mann gestorben war - allein in einer Wohnung in Leimen und fühlte sich sehr einsam. Sie kam nun öfter zu Besuch und als im Winter sehr schlechtes Wetter war und sie eine Venenentzündung bekam, blieb sie ganz da. Sie wurde von Frau P. und Herrn W. gepflegt und freute sich, nicht allein in ihrer Wohnung liegen zu müssen. Sie entschloss sich, ihre Wohnung zu kündigen (es war nicht gestattet, dass eine zweite Person dort mit einzog), sparte ihr Miete (über 500,000 DM monatlich) und beschloss, zunächst mit in dem winzigen Zimmer von Herrn W. zu wohnen, um dann, wenn Herr W. eine feste Stellung haben würde, eine richtige Wohnung mit ihm zusammen zu mieten.

Herr W. arbeitete fleißig und sollte zum 1. März fest angestellt werden. Er nahm sich daraufhin vor, ab Aschermittwoch keinen Alkohol mehr zu trinken. Diesen Vorsatz hielt er durch. Er wurde fest angestellt und verdiente 1.300,00 DM netto. Frau E. bekam 900,00 DM Rente. Sie besorgten sich selbst über einen Makler eine schöne Wohnung mit großer Wohnküche und großem Zimmer plus Bad und Balkon für 650,00 DM. Der Einzug dauerte zwar bis zum 1. September - bis dahin mussten sie sich weiter in dem kleinen Zimmer einrichten. Sie hatten aber das Geld für den Makler, für die Kaution und für das Renovieren gespart. Einige Küchenmöbel konnten sie preiswert beim Frauenring kaufen. Sie beantragten noch einen Telefonanschluss, da Herr W. für den Chef erreichbar sein musste. Es verlief dann alles zur vollen Zufriedenheit.

Bei Herrn X. war inzwischen, zu Beginn des Winters, wieder ein neuer Besucher aufgetaucht. der sich als ein sehr, sehr ordentlicher Mann entpuppte. Herr. R., 54 J., ließ sich als Gelegenheitsarbeiter vom Schnelldienst des Arbeitsamtes vermitteln und war froh, abends einen warmen Schlafplatz zu haben. Er hatte sich ein Jahr vorher einer Wirbelsäulenoperation unterziehen müssen und durfte keine schwere Arbeit mehr tun. Da er aber beim Schnelldienst als zuverlässiger Mann bekannt und ein gelernter Zimmermann war, wurde er häufig vermittelt. Es war für ihn sehr wichtig, ein eigenes Zimmer zu bekommen, da er früh um 5 Uhr wegging und dann ausgeschlafen sein musste. Als wieder ein Zimmer frei wurde, sollte er der Mieter werden. Leider wurde er gerade in den Tagen schwer krank und musste sich einer Magenoperation unterziehen Er konnte kein Geld für die jetzt anfallende Miete mehr verdienen, und ich musste für ihn über das Sozialamt erst einmal die Miete und Kaution für das Zimmer besorgen. Es wäre eine Katastrophe für ihn gewesen, nach dem Krankenhausaufenthalt keine Unterkunft zu haben. Mit der Arbeit über den Schnelldienst war es vorläufig sowieso Schluss, da ihm körperliche Arbeit ärztlich verboten war. Er kam dann wieder aus dem Krankenhaus und bezog sein eigenes Zimmer. Leider dauerte es nicht lange, bis er wieder ins Krankenhaus kam und sich einer weiteren Magenoperation unterziehen musste.

Nach mehreren Wochen kam Herr R. aus der Klinik nach Hause und durfte nicht arbeiten. Womit sollte er sich in seinem Zimmer beschäftigen? Es fehlte ihm an allem, war dazu nötig gewesen wäre. Als einziges bot sich Lesen an - aber auch Bücher mussten erst beschafft werden. Es dauerte nicht lange, da wurde Herr R. Leser der Stadtbücherei. Übrigens bat mich Herr R. auch, sein Geld zu verwalten.

Einige Wochen nach der Krankenhausentlassung rief mich Herr X. ganz aufgeregt an. Herr R. hätte einen Abschiedsbrief geschrieben, seinen kleinen Fernsehapparat und seinen Elektrokocher einem Nachbarn gegen etwas Geld abgegeben und ihm den Zimmerschlüssel übergeben. Ich beruhigte Herrn X., da ich glaubte, dass Herr R. wiederkommen würde. Er hatte Depressionen, mochte nicht mit den Nachbarn über seine Probleme sprechen und war in seiner Verzweiflung eben mal „verreist".

Herr X. hatte allerdings bereits einen anderen wohnungslosen Mann auf der Warteliste! Ich erlaubte, den neuen Mieter bis zur Rückkehr von Herrn R. dort schlafen zu lassen, danach würden wir weitersehen.

Es dauerte nur drei Tage, da rief Herr R. mich an. Er befand sich in einer anderen Stadt, entschuldigte sich für sein Verhalten und erklärte mir, es tue ihm so leid, dass er mir Sorgen und Arbeit machen würde, nachdem ich ihm soviel geholfen hätte. Ich beruhigte ihn und redete ihm gut zu, auf alle Fälle wiederzukommen, wenn er sich besser fühlen würde und seine Depressionen vorüber wären. Ich hätte dann auch ein Zimmer in einer anderen Etage, das ihm vielleicht besser zusagen würde. Er bat mich daraufhin, ihm an eine bestimmte Adresse etwas Geld zu schicken, damit er eine Rückfahrkarte kaufen könnte. Mehrmals musste ich ihm noch versichern, dass ich ihm nicht böse sei. Erst dann sagte er zu, demnächst wiederzukommen. Später erzählte er mir den eigentlichen Grund seiner zeitweiligen Niedergeschlagenheit. Er habe sein ganzes Leben immer ehrlich sein Geld verdient, nun aber sei er zu nichts mehr nütze und müsse von der Sozialhilfe leben. Es stellt sich heraus, dass er in Mitteldeutschland eine Frau und 2 Söhne hatte, dort aber - es war schon über 20 Jahre her - eines abends von einem Freund eine Warnung erhalten hatte. Am nächsten Morgen sollte er wegen einer politischen Äußerung verhaftet werden. Hals über Kopf hatte daraufhin seine Heimat verlassen, um in den Westen zu fliehen. Seitdem hatte er nichts mehr von seiner Familie gehört; hier im Westen hatte er nie richtige Wurzeln geschlagen.

Nach der Rückkehr von seiner kurzen Reise ergab es sich, dass er in der obersten Etage des Hauses ein etwas größeres Zimmer mieten konnte. Er fing sofort an, das Zimmer zu renovieren und alles mit seinen wenigen Mitteln so wohnlich und ordentlich wie möglich zu machen.

Sein ursprüngliches Zimmer bezog ein ganz scheuer, aber ordentlicher Mann, Herr Wi., 56 J., der bis vor einem Jahr sein Geld als Gelegenheitsarbeiter mühsam verdient hatte, und der von seinen Arbeitgebern nie richtig versichert und angemeldet worden war. Er selbst konnte so etwas Formales nicht durchsetzen, sondern war froh, wenn er jeden Abend sein Geld bekam. Einen Personalausweis hatte er schon über 10 Jahre nicht mehr. Er traute sich auch gar nicht in eine Behörde hinein. Im letzten Jahr war er dann einmal zusammengebrochen und mit einem schweren Herz- und Kreislaufleiden in die Klinik gekommen. Nach seiner Entlassung war vorläufig nicht mehr an Arbeiten zu denken. Da er sich nicht ins Sozialamt zur Abteilung für „Nichsesshafte hineinwagte, wo er täglich wenigstens einen Gutschein im Werte von 5,00 DM erhalten hätte, lebte er davon, dass ihn eine gutmütige, altere Kioskbesitzerin täglich mit Brötchen und auch mal mit einer heißen Wurst versorgte.

Für ihn bedeutete es das große Glück, von Herrn X. in dessen Zimmer aufgenommen worden zu sein! Damit begann für ihn sein Aufstieg zu einem normalen Bürger. Als ich ihn kennenlernte, erklärte er mir, dass er kein Zimmer haben wollte, da er es nicht bezahlen könnte. Auch könnte er nicht ins Sozialamt gehen. Er erklärte ihn, dass er mit der Abteilung für „Nichtsesshafte" nichts mehr zu tun hätte, wenn er ein eigenes Zimmer nachweisen könnte; außerdem würde ich ihn bei den Ämtergängen begleiten.

Ein Strahlen ging über sein Gesicht, und er willigte glücklich ein. Am nächsten Tag füllte ich ihm alle Formulare aus, die notwendig waren, um Unterstützung zu bekommen. Herr X., in dessen Zimmer wir saßen, bot seinerseits Hilfe an, in die ich gern einwilligte: Er wollte Herrn Wi. zu allen Ämtern begleiten. Zunächst machte er mit ihm Passbilder an einem Automaten, wofür ich ihm das Geld auslegte, danach ging er mit ihm zum Einwohnermeldeamt zur polizeilichen Anmeldung und beantragte einen Personalausweis, anschließend begleitete er ihn zum Sozialamt. Herr X. erzählte mir anschließend, dass Herr Wi. auf dem Sozialamt vor Rührung über die Tatsache geweint habe, dass ihm soviel Gutes getan wurde. - Am nächsten Tag mussten die beiden Männer noch zum Arbeitsamt gehen, um die Bestätigung zu holen, dass Herr Wi. keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte.

Ich richtete in der Zwischenzeit ein Konto für ihn ein und verwaltete anschließend sein Geld. Da Herr Wi. nicht gewohnt war, Geld auszugeben, sparte er sich in kurzer Zeit 70,00 DM zusammen. Davon konnte ich ihm damals einen kleinen, gebrauchten Schwarz-Weiß-Fernseher kaufen. Für einen Gutschein vom Sozialamt besorgte ich ihm eine Bettdecke, ein Kissen, Bettwäsche, Handtücher und einen Elektrokocher. Er hielt sein Zimmer immer sehr sauber und ordentlich und schmückte seine Wände mit Tierbildern, die er aus der Medizinerreklamezeitschrift ausschnitt. Wenn es sein Gesundheitszustand zuließ, ging er tagsüber gern an den Neckar, sonst vertrieb er seine Zeit mit Lesen oder Fernsehen. Nach weniger als zwei Jahren verstarb er leider an einem Schlaganfall.

Dörte Klages

  

 

Wie normale Bürger 1986 in „Nichtsesshafte" verwandelt wurden ... (S. 32)

Der nachstehende Fall ist schnell erzählt, wirft aber die weitreichendsten Fragen auf. Zwei ältere alleinstehende, voreinander unabhängige Personen wohnen seit sechs bzw. vier Jahren jeder in einem Zimmer in einem Heidelberger Haus. Ihnen wurde gekündigt, da der neue Hausbesitzer das Gebäude sanieren will. Beiden Untermietern gelang es nicht, sich ein neues, bezahlbares Zimmer zu beschaffen. Die Stadt, die über Notwohnraum verfügt, kann nicht helfen, da es eine Verwaltungsanordnung gibt, derzufolge solcher Wohnraum nur an Familien, d. h. also nicht an Alleinstehende abgegeben werden darf. Die beiden Personen müssen also damit rechnen, im buchstäblichen Sinne auf die Straße geworfen zu werden, d. h. also in Zukunft - in gängigem Amtsdeutsch ausgedrückt - als „Menschen ohne festen Wohnsitz" weiterzuleben.

Man kann aufgrund bisheriger Erfahrung davon ausgehen, daß ihnen dann sogleich unterstellt wird, aufgrund „persönlichkeitsbedingter Unstetigkeit" in diese Lage geraten zu sein, denn so werden die „Nichtsesshaften" im allgemeinen taxiert. Es kann ihnen passieren, dass ihnen eine Heimunterkunft in Aussicht gestellt wird, die aber mit der Auflage verbunden ist, sich einer Resozialisierungstherapie zu unterziehen, die auf den Abbau der unterstellten Unstetigkeit zielt. Beide alleinstehenden Personen haben im Verlauf ihres Lebensschicksals keine „Unstetigkeit" gezeigt. Aber wer kein bezahlbares Zimmer findet, fällt unter diese Typisierung! So werden also aus normalen Bürgern „Nichtsesshafte" gemacht - mit allen Konsequenzen, die dies nach sich zieht.

Es kann angesichts einer solchen erschütternden Situation nur ein dringender Hilferuf ausgestoßen werden. Dieser richtet sich an die Kommunalpolitiker: den preiswerten Wohnungsbau zu fördern!

Dörte Klages

  

 

Die verlorene Handtasche ... (S. 33)

In den ersten beiden Jahren half ich bei der Betreuung ehemals Wohnsitzloser, die inzwischen durch die Bemühungen von Dörte Klages ein möbliertes Zimmer in der Brückenstraße erhalten hatten.

Eines Abends kam ich von einem Besuch in der Brückenstraße zurück und stellte beim Aussteigen aus meinem Auto fest daß meine Handtasche fehlte. Mit Scheckkarte, mehreren 100,00 DM, Ausweispapieren und Schlüsseln! Ich durchsuchte mein Auto, ging den Weg zur Brückenstraße zurück, fragte bei den Bewohnern des Hauses Brückenstraße nach - die Handtasche blieb verschwunden. Ziemlich niedergeschlagen kehrte ich nach Hause zurück und suchte in meinem Auto noch einmal nach der Tasche - ohne Erfolg.

Als ich aus dem Auto stieg, wurde ich von einem jüngeren Mann angesprochen. "Kennen Sie eine Frau M.? "Ich sagte, das sei ich, und er antwortete: "Ich habe Ihre Handtasche gefunden. Ich habe sie aber versteckt, da ich nicht auffallen wollte mit einer fremden Tasche in der Hand. Ich bin nämlich ein Penner, und die werden immer gleich verdächtigt, etwas gestohlen zu haben."

Ich ging mit ihm zu dem Versteck, es war nicht weit. Er holte die Tasche aus einem Busch in einer kleinen Anlage. Er hatte sie am Rande der Fahrbahn in der Brückenstraße gefunden. Ich gab ihm einen angemessenen Finderlohn, und wir machten einen Termin bei Dörte Klages aus, die ihm dann ein Zimmer verschaffen konnte.

 

Auf Suche nach einer Notunterkunft ...

Während eines Spazierganges am Neckar entlang, in Winter 1986, bei dem wir an einer Gruppe von Wohnsitzlosen vorbeikamen, erläuterte mir Dörte Klages ihre Vorstellungen darüber, wie man Menschen ohne festen Wohnsitz helfen könne. Zunächst muß dafür gesorgt werden, daß Notunterkünfte zur Verfügung gestellt würden, da der Winter sehr kalt zu werden drohte. Dann aber sei die Hauptarbeit zu leisten, nämlich Wohnraum zu finden, für solche Wohnsitzlose, die weg von der "Platte" (das ist das Nächtigen im Freien) kommen wollten. Was die Notunterkünfte betraf, so sollte zunächst bei kirchlichen Einrichtungen nachgefragt werden.

Ich half bei der Suche und erkundigte mich bei verschiedenen Kirchengemeinden - jedoch ohne Erfolg. Die in Frage kommenden Räume hatten keine separaten Eingänge, oder die Toiletten waren zu weit entfernt. Lediglich in einer Gemeinde war ein brauchbarer Raum vorhanden. Doch der zuständige Pfarrer reagierte merkwürdig: "Wenn hier eine Notunterkunft eingerichtet würde, müßte ich ja jede Nacht Aufsicht machen!" Mit anderen Worten, er wollte nicht. Ich war über diese Antwort eines Pfarrers sehr betroffen. Einige Zeit später wurde dann in einer anderen Gemeinde doch noch ein Raum zur Verfügung gestellt, im Keller.

U. M.

  

 

Ein Grillnachmittag im Juli 1995 ... (S. 34-35)

Um den vom Verein betreuten zwölf Bewohnern des Hauses Käfertaler Straße 19 mehr Gemeinschaftsgefühl und Kommunikation untereinander zu ermöglichen, haben wir Mitarbeiter die Bewohner auf die Idee angesprochen, einen Grillnachmittag zu veranstalten. Bei der Mehrzahl fand diese Idee gute Zustimmung, und die Organisation dazu konnte beginnen.

Wir besprachen zusammen, was jeder gerne essen würde und auch selbst zubereiten könnte und entschieden uns dann für Steaks, verschiedene Salate und eine alkoholfreie Bowle. Den Grillnachmittag legten wir auf Donnerstag, den 13. Juli fest.

Zwei Bewohner und eine Mitarbeiterin unternahmen dann an diesem Vormittag die dazu notwendigen Einkäufe und setzten gleich eine alkoholfreie Ananas-Bowle mit Traubensaft und Mineralwasser an.

Vor der Zubereitung der Salate am frühen Nachmittag wurden von den dabei zahlreichen Beteiligten die eigenen Rezeptvorschläge ausgetauscht und untereinander abgesprochen, damit die Salate nach den Wünschen aller zubereitet werden konnten. So wurden dann je nach persönlichem Geschmack, Erfahrung und Herkunftsregion der Mitwirkenden verschiedene Salatspezialitäten zubereitet, wie z. B. Kartoffelsalat mit Gurken nach saarländischer Art, Nudelsalat nach bayrischer Art und so weiter. Bei diesen Vorbereitungen, bei denen jeder seine Erfahrungen und sein Können einsetzen konnte, ergab sich eine gute Zusammenarbeit, eine gelöste Stimmung und anregende Gespräche untereinander.

Anschließend wurden aus dem Keller der Grill, ein großer Tisch und Stühle geholt und im Schatten des Hauses auf dem grünen Rasen aufgestellt. Das Salatbuffet wurde gerichtet und die Steaks gegrillt. Um Abfall zu vermeiden, hatten alle ihr eigenes Besteck, Teller und Gläser mitgebracht und versammelten sich nun um den großen Tisch.

Die Essensrunde konnte beginnen. Die Steaks, die verschiedenen Salate und die Ananas-Bowle schmeckten vorzüglich. Mit Gesprächen und Gesang nahm das Grillfest bis in die frühen Abendstunden hinein einen guten Verlauf und einen guten Ausklang.

Colette Nießner und Heinz Jäger

  

 

Und was sagen die, für die wir uns mit unserem Engagement bemühen? (S. 36)

Als wir unsere Schrift vorbereiteten, wollten wir es nicht bei einer Selbstdarstellung belassen. Es sollten auch und gerade die zu Worte kommen, um die sich unser Verein bemüht. Wir haben herumgefragt und erfuhren eine unerwartete, positive Reaktion.

Alle Briefe oder Notizen, die uns erreichten, konnten wir aber aus Platzgründen nicht unterbringen, aus unserer Schrift wäre ein dickes Buch geworden. So haben wir eine Auswahl getroffen, die wir teilweise als Faksimile in den nachstehenden Seiten zum Abdruck gebracht haben. Handschriften sagen manchmal mehr als geschriebene Worte! Wo wir umgeschrieben haben, hatte dies drucktechnische Gründe. Wir bitten die Verfasser um Verständnis.

Dem Leser unserer Schrift sei an dieser Stelle gesagt, daß die Schreiber ihrer Zeilen in den meisten Fällen inkognito bleiben wollten, weshalb wir es mit den jeweiligen Initialen oder mit N.N. genug sein ließen. Hinter jedem Kürzel steht aber eine Persönlichkeit, die wir alle kennen.

Und nun laden wir Sie zum Weiterlesen ein.

  

 

 

Gratulationsschrift / „huldatio" 
zum 10jährigen Bestehen des Vereins „Betreute Wohngruppen e. V." (S. 40)

Liebe Leute,
einige, die dieses Statement lesen werden, kennen mich vielleicht noch aus „längst" vergangenen Zeiten, in denen ich einen persönlichen Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und nicht zuletzt gegen Obdachlosigkeit zu bestehen hatte. Dies war vor ca. 5 Jahren, und obgleich sich meine „Probleme" schon zu früheren Zeiten der Jugend und im Heranwachsenenalter abzeichneten und dort schon zu verheerenden Auswüchsen meines sozialen Abstiegs führten, hatte ich mich immer wieder wie der „Phönix aus der Asche" erheben können und Jobs - gleich welcher Art - angenommen; jedoch stets unter dem trügerischem Aspekt, mir bzw. meinen Organen und meinem Hirn könne der Alkohol nichts anhaben ...

Damals nährte ich mich noch von der Einbildung, jung zu sein und alle Zeit dieser Welt zu haben. Diesem Trugschluss erlegen und der bitteren Erkenntnis, dass auch meine Körperbehinderung kein Garant für ein „sorgenfreies Leben" darstellt bzw. „die Welt" mir deswegen nichts „schuldet", resignierte ich zunehmend mehr vor der Verantwortung anderen und mir selbst gegenüber, was unzählige Alkoholmissbräuchlichkeiten nach sich zog, die mich wiederum an den Rand des Ruins in sowohl körperlicher als auch geistiger Hinsicht brachten.

Zuletzt hatte der Alkohol einen Stellenwert bei mir eingenommen, der es mir fast unmöglich machte, die inzwischen durch den Verein „Betreute Wohngruppen" vermittelte Arbeitsstelle bei der „WERKSTATT e. V" beizubehalten, und auch meine angemietete Wohnung stand in Gefahr, aufgekündigt zu werden, so dass ich ernstlich Gefahr gelaufen wäre, wiederum alles so mühsam Aufgebaute zu verlieren. Zu jener Zeit kam „glücklicherweise" hinzu, dass mein Körper energisch gegen den überhöhten Alkoholmissbrauch „rebellierte" und psychisch sah ich mich zunehmend mehr in der Rolle „einer Marionette meiner selbst" hineingedrängt - ständig auf der Suche nach dem verfluchten Alkohol ...

Der „psychosozialen" Betreuung des Vereins - insbesondere die der Frau von Dallwitz - habe ich es zu verdanken, dass ich allmählich von meinem aberwitzigem Irrglauben abrückte, die „Schuld" für mein verpfuschtes Leben im Tun oder Unterlassen anderer zu suchen.

Mit wirklich allergrößtem Engagement und sehr viel Geduld seitens des Vereins und meines Arbeitgebers war ich dann endlich vor ca. 1 ½ Jahren zur Therapie, zum schwierigsten Kampf gegen meinen größten Widersacher - dem Alkohol - bereit. Ohne Wenn und Aber zog ich die Therapie bis zum Schluss durch und bin heutzutage nach einjähriger Abstinenz „auf freier Wildbahn" - wiederum ohne Wenn und Aber - davon überzeugt, dass ich mein neuerlich zurückgewonnenes Selbstwertgefühl und all die positiven Dinge drum herum nie wieder durch Alkohol zunichte machen werde.

Nach alldem denke ich, dass ich es in allererster Linie mir selbst gegenüber; aber auch dem Verein „Betreute Wohngruppen e. V." der „Werkstatt e. V." sowie meinen Freunden und „Feinden" schuldig bin, nun endlich und für alle Zeiten unter’s dunkelste Kapitel meines Lebens einen Schlussstrich gezogen zu haben.

Ich wünsche dem Verein um Frau v. Dallwitz, Frau Klages und allen, die sich voller Tatendrang diesem äußerst komplexen Aufgabengebiet widmen mögen, dass er seinem erklärten Ziel, Bindeglied zwischen gutsituierter Gesellschaft einerseits und der nicht vom Erfolg gekrönten Menschen andererseits zu sein, stets die ihn auszeichnenden Gaben von Geduld, Kraft, Sachverstand und Liebe zum Menschen beibehalten und ggf. hier und dort forcieren mag, auf dass es letztlich mehr denn je glücklicher gewordene Menschen wie mich gibt.

Zuguterletzt möchte ich es an dieser Stelle nicht versäumen, auch einen ganz besonders herzlichen Dank an die Stadt Heidelberg, vertreten durch den Paritätischen Wohlfahrtsverband - Schuldnerberatung Heidelberg - ebenda durch Herrn Th. Engels, zu richten, der auf Empfehlung von Frau von Dallwitz das für mich lange Zeit Unmögliche wahr werden ließ - mich nämlich vom unerträglichen Joch der hohen Verschuldung befreite.
Danke.
Mit freundlichen Grüßen

  

 

 

Von der Seele geschrieben oder Verwandlung eines Paradiesvogels ... (S. 46-52(

Ich bin einer derjenigen Menschen, die ihr Herz wahrhaftig in Heidelberg verloren haben, und das gleich in mehrfacher Hinsicht ...

Als ich im Jahre 1990 zum ersten Mal diese schöne Stadt besucht habe, war ich gleich fasziniert von ihrem Flair. Damals verschlug es mich auf den Heidelberger Uniplatz, die Anlaufstelle für alle Paradiesvögel, wie ich es einmal war. Die Atmosphäre dort hat mich beeindruckt: Berber, Punks und andere, die nicht zu definieren waren, saßen friedlich zusammen bei Gitarrenmusik, und von Zeit zu Zeit lag der süßliche Geruch von Haschischpfeifchen über dem liebenswerten Grüppchen.

So habe ich Heidelberg und seine Uni-Gang kennen und lieben gelernt. Damals war meine einzige Möglichkeit, mich auszudrücken noch die, mich in zum Teil selbst wahllos zusammengeschneiderten Phantasiekostümen zurechtzumachen. Belustigt erinnere ich mich manchmal an die Reaktion der Leute, als sie mich das erste Mal auch ungeschminkt zusehen bekamen. Dort auf dem Uniplatz, inmitten all dieser liebenswerten Menschen, lernte ich in all den Jahren der Obdachlosigkeit zu mir selbst zu finden. Die Wege, die ich dabei beschritten habe, waren jedoch alles andere als nachahmenswert. Ich denke, es hat verhältnismäßig lange gedauert, bis ich außer durch meine Art, mich zu kleiden, durch den Gebrauch von Drogen versuchte habe, dem Leben etwas Spannendes und Ungewöhnliches abzugewinnen.

Doch mit den Jahren wurden die Tage, an denen ich Drogen brauchte, immer häufiger. Und nachdem ich nach einem Kurzaufenthalt in Ludwigshafen schließlich auch die sogenannte „Liebe meines Lebens" kennengelernt hatte, war ich längst dazu übergegangen, auch harte Drogen zu nehmen. Wobei ich betonen möchte, dass es stets meine eigene Entscheidung war, diese Dinge zu konsumieren. Es gab nie jemanden, der mich ernstlich gezwungen hätte, beim Drogenkonsum mitzuhalten. Ich denke jedoch, dass die Kreise, in denen ich mich aufgehalten habe, und die Tatsache, dass die ersten Todesfälle viel später in mein Leben traten, dazu geführt haben, ohne richtige Furcht an diese Sache heranzugehen. Ich kann mich an drei Situationen erinnern, in denen ich eine Überdosis hatte, wobei ich in jedem Moment gespürt habe, dass ich in Gefahr bin, und im Notfall wahrscheinlich keine Hilfe zu erwarten gewesen wäre, da die Menschen, die mich damals umgeben haben, sicher zuerst an ihre eigene Sicherheit gedacht hätten als daran, eventuell einen Notarzt zu rufen. Zum Glück waren diese schrecklichen Zustände jedoch an den folgenden Tagen vorüber - nur gelernt habe ich nie daraus.

Im April 1992 haben Phil (meine sogenannte Liebe) und ich mit einigen anderen aus der Clique in der Runden Hütte gelebt. In diesem Monat kam auch mein über alles geliebter Hund MOKWAI zur Welt, das schönste Geschenk, das ich jemals erhalten habe.

Nun ist es in diesen Kreisen, wie ja auch im normalen Spießertum, nicht gerade üblich, einander die Treue zu halten. Diese schmerzlich Erfahrung musste ich noch in demselben Monat machen. Die Beziehung war zu Ende, und obwohl noch einige Monate später erneute Versuche beiderseits unternommen wurden, gab es nie mehr das Vertrauen, das nötig ist, um seinen Partner glücklich zu machen. Trotzdem kann ich auch heute noch sagen, dass es nach Phil nie mehr einen Menschen gegeben hat, an dem ich so gehangen habe, dass ich mein ganzes Leben mit ihm hätte teilen wollen ...

Doch noch einmal zurück - nach dieser Trennung trieb ich mich häufiger am Ententeich herum. Dort hörte ich das erste Mal vom Verein „Betreute Wohngruppen e. V.". Eine Bekannte, die ich damals in der Bluntschlistraße 21, einer berühmten Adresse in der Szene, besuchte, fragte mich, ob ich Interesse an einem Zimmer in dieser Frauen-WG hätte. Nu’, frag mal einen Obdachlosen, ob er sich über ein Zimmer freuen würde!!!

Zwei Tage später wurde ich Gisela Schulze vorgestellt. Ich muss grinsen, weil ich diese Frau, die mir heute eine liebe Freundin geworden ist, damals noch mit SIE angesprochen habe. Nun, es folgten eine Reihe von Ämterbesuchen, die ein weiterer Mitarbeiter, Bertram Richter, mit mir zusammen durchstand. Ja, und eine Woche später schlief ich das erste Mal in meinem Reich. Ich muss sagen, dass ich sämtliche Regeln der Hausordnung außer Acht ließ. Ich nahm meinen Hund mit, obwohl es eigentlich nicht gestattet war. (Ich muss hier jedoch sagen, dass nichts auf der Welt außer höherer Gewalt mich von meinem Herzbuben trennen kann). Zudem habe ich mir nicht die Mühe gemacht, mein Zimmer zu renovieren, sondern habe kurzerhand die Wände mit Autolack besprüht, eine Angelegenheit, die mir woanders den hochkantigen Rausschmiss garantiert hätte.

Geschirr spülen war nur dann angesagt, wenn wirklich nichts mehr zu finden war, in das man seine Ravioli hätte füllen können. Mülltüten wurden nur dann geleert, wenn es schon bedenklich zu muffeln anfing, oder auch, wenn es die jungen Hunde gar zu arg trieben mit dem Abtragen der Abfallberge in der Küche. Außer MOKWAI gab es da noch etwa 10 weitere Welpen meiner Mitbewohnerin, später nur noch insgesamt 3 Hunde, jedoch genug, um Chaos zu schaffen. Hundekot wurde generell dann entfernt, wenn wir wieder ausgenüchtert genug waren, um gerade stehen zu können, oder eben, wenn er bereits angetrocknet war, um ihn leichter entsorgen zu können. Später, nachdem die Welpen endlich stubenrein waren, musste der kleine Hinterhof fürs Pipi herhalten, denn mit einem Kater lässt’s sich ja schlecht vor die Tür gehen.

Begleitet wurden diese Missstände von einem wilden Mix aus Punk-Rock aus unserem Erdgeschoss, der erste Stock hatte eher deutschen Schlager parat, und aus dem 4. Stock dröhnten entweder Blues, alternative Musik aus den 70ern, oder wenn sich die Leute zum Fußball auf irgendeinem der privaten Fernsehsender verabredet hatten, dann eben auch Gegröhle, wenn mal der Ball in der falschen Ecke gelandet ist. Tagtäglich wurde gebrüllt, entweder, weil man sich gestritten hatte, oder um eine der genannten Musikrichtungen noch zu übertönen.

Die Nachbarschaft muss uns bis auf’s Blut gehasst haben. Heute kann ich das verstehen, damals haben mich die „engstirnigen Spießer" nur genervt.

Irgendwann war auch das vorbei. Die Stadt gab dem Verein wohl so eine Art Auflage, die herrschenden Zustände zu beenden. Es wurden neue Wohnungen gesucht. Auch für unsere Frauen-WG sollte neuer Wohnraum gefunden werden. Nun war ich mittlerweile regelmäßig auf Heroin, und prompt an dem Tag, an dem ich mit meiner Mitbewohnerin die neue Wohnung hätte gezeigt bekommen sollen, habe ich natürlich verschlafen. Ich zog mich zwar in Windeseile an, doch damals konnte ich nicht verstehen, warum man mir das Verschlafen so nachtrug. Frau von Dallwitz war sicher enttäuscht, weil ich an diesem wichtigen Termin nicht pünktlich war. Und ich selbst, einen leichten Entzug in den Knochen, habe mich nicht anders mitteilen können, als wüste Beschimpfungen loszuwerden und mit einem bedenklichen Türenknallen einen Winkel zu suchen, in dem ich in Ruhe schmollen konnte.

Ich bekam kein neues Zimmer, war noch monatelang sehr, sehr wütend auf Frau von Dallwitz und all die anderen im Verein, weil ich mich gänzlich missverstanden gefühlt habe, eine Begleiterscheinung meiner Persönlichkeit, gegen die ich noch heute sehr zu kämpfen habe.

Doch der Verein ließ mich nicht vollständig im Stich. Gisela Schulze hat mir stets hilfreich zur Seite gestanden. Überhaupt muss ich sagen, dass die Mitarbeiter vom Verein „Betreute Wohngruppen e. V." oder auch die Anlaufstelle WÄRMESTUBE immer an der Persönlichkeit der Menschen interessiert waren, die zu ihnen kamen.

Während der größte Teil der Bevölkerung nichts Besseres zu tun hatte, einen mit Verachtung oder gar wüstesten Beschimpfungen zu bestrafen, weil man nicht gerade dem Bild des „normalen" Bürgers entsprach, haben die Leute von den genannten Institutionen nie auch nur die geringste Kritik an den Äußerlichkeiten geltend gemacht, sondern man wurde wirklich wie ein Mensch behandelt, eine Kunst, die noch sehr viele Mitmenschen erlernen müssten, vor allem im Umgang mit den sogenannten Randgruppen.

So landete ich also 1993 in der therapeutischen Einrichtung „Melchiorsgrund". Mich hielt es dort gerade mal drei Monate; nichtsdestotrotz kann ich auch heute noch behaupten, dass diese Therapiestätte beispiellos den Bedürfnissen eines Drogenabhängigen gerecht werden kann, zumindest wenn der Betroffene auch wirklich mit seiner Sucht brechen möchte. Nun, ich wollte es damals anscheinend noch nicht, auch muss ich sagen, dass mein Weg der Suchtbekämpfung der war, anhand der Bibel herauszufinden, was denn nun der Sinn des Lebens ist. Aber das sollte erst viel später folgen.

Ich ging zurück nach Heidelberg, schlief mal hier, mal da. Besonders als Frau ist es sehr schwierig, eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden, die einen nicht der Würde beraubt. Die besten Freunde können auf einmal zudringlich werden. Ich denke, ich habe großes Glück gehabt. Aber ich kann es auch nicht verstehen, dass manche Frauen mit sehr unmoralischen Mitteln versuchen, zurecht zu kommen. Ich hätte lieber in irgendeinem Hauseingang geschlafen, als dem Drängen irgendeines aufdringlichen Mannes nachzugeben. Trotzdem war es sehr traurig. Kein Recht auf Ruhe, man war stets auf die Gnade von Bekannten angewiesen oder man musste eben seine Sachen packen und gehen. Wohin? ...

Noch einmal hatte das Leben auf der Straße etwas Romantisches bekommen. Das war im Frühling 1993, als ich eine Art platonische Beziehung mit einem Bekannten einging. Mit demjenigen, der mir schon ein Jahr vorher den einzigartigen MOKWAI geschenkt hatte. Ich kann nicht sagen, dass wir gemeinsam eine Hütte im Wald gebaut haben; denn die Hilfe, die ich leistete, beschränkte sich wohl auf das Geringste. Ich denke, ich besitze einfach nicht das Wissen, um solch ein wetterfestes Gebilde zu schaffen, doch zumindest habe ich versucht, mein Bestes zu geben. Meine Aufgabe in dieser Zeit war eher die künstlerische Zusammenstellung von Kleinigkeiten, die zwar unnütz sind, aber einen Wohnraum gemütlich machen. So hatte ich meine persönliche „Märchenecke", in der ich u. a. die „50.000 Nüsse des Aschenbrödel" oder Steine sammelte, die man wohl alle paar Meter findet, die ich jedoch ganz besonders schön fand.

Es war ein schöner Sommer. Ich denke, wir hatten die schönste Hütte im ganzen Wald. Sogar eine Stehlampe und eine kleine Couchgarnitur haben wir dort hochgeschleppt. In sorgfältiger Kleinarbeit wurde der riesige Kamin mehrmals umgebaut. (Wir konnten uns an kühleren Tagen nur knapp über dem Erdboden bewegen, so verraucht war das Ding!) Und noch viele andere kleine Dinge machten aus dieser notdürftig zusammengebauten Hütte ein kleines Schloss. Ich denke jedoch, dass wir den ersten Winter dort nicht überlebt hätten.

Wir haben den Winter noch nicht einmal ERLEBEN können. Die Hütte brannte an einem kalten Wintertag ab. Ich erfuhr es auf dem Weg zum Obdachlosenfrühstück. Die Nacht hatte ich in der Stadt zugebracht. Eigentlich wollte ich nur ein paar Tage Abstand haben vom Wald, auf Konzerte gehen oder sonstige Dinge tun, um mal andere Gesichter zu sehen.

Ja, und dann erfuhr ich auf der Straße, dass es unser kleines Schloss nicht mehr gab . . .

Bei mir dauert es immer eine kleine Weile, bis ich schlimme Dinge so richtig begreifen kann. Ich war daher im ersten Moment nicht sonderlich erschüttert. Überhaupt habe ich deswegen nie so richtig weinen können, doch wenn ich ganz selten einmal vom Philosophenweg abbiege und den Weg zurück an unserer alten Hütte vorbeigehe, dann bleibe ich jedesmal ein wenig erschüttert stehen, und im Geist sehe ich haargenau, wie alles einmal ausgesehen hat. Ich denke, es wird noch sehr viel Zeit vergehen, ehe ich das wirklich verarbeitet habe.

Wir hatten Glück. Ein weiterer Bekannter bot uns ein Zimmer in einem Haus an, das nach einer Hausbesetzung von der Stadt zur Bewohnung freigegeben worden war. Das letzte Kapitel in meinem „Straßenleben" wurde geschrieben, ohne dass ich wusste, dass es das letzte sein würde. Es begann wieder eine Zeit des wilden Drogenkonsums; makaber, dass das Polizeirevier quasi auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag.

Nach etwa vier Monaten, die wir in diesem Haus verbracht hatten, ereignete sich etwas, das es mit später sehr erleichtern sollte, diese Kreise hinter mir zu lassen. Die nötigen Kräfte, das alles zu ertragen, erhielt ich durch ein Bibelstudium. Schon damals merkte ich, dass ich eines Tages ernsthaft entscheiden müsste, ob ich weiterhin solch ein Leben führen wollte, oder aber ein ehrlicher, nächstenliebender Mensch werden wollte, der sich nicht von öffentlichen Geldern sein unmoralisches Leben finanzieren ließ.

Am 4. März 1994 starb Phil an einer Überdosis Heroin. Direkt im Zimmer neben dem unseren. Ich selber war an diesem Tag voll auf Droge. Ich hatte an diesem Tag Tabletten genommen, die mich eigentlich fit machen sollten, so dass ich den ganzen Tag „unterwegs" sein würde.

In den Minuten, in denen ich die Wirkung langsam zu merken anfing, muss Phil gestorben sein. Ich sehe das in keinerlei Zusammenhang, aber ich wäre damals sicher froh gewesen, wenn ich noch etwas mehr von meinem „Turn" gehabt hätte, ehe das geschah. Heute wäre ich dankbar dafür, dass ich keine Galgenfrist bekam. Ich sehe noch immer die Unmengen von Kanülen und Plastikhüllen irgendwelcher Injektionsmittel, die helfen sollten, Phils Leben zu retten. Der ganze Hausflur war voller Sanitäter. Richtig ängstlich war ich nicht. Denn es war so alltäglich, dass man wegen irgendeinem den Notarzt rufen musste. Meistens waren die Leute am nächsten Tag schon wieder auf der Szene und ließen sich auf’s Neue volllaufen.

Etwa eine Stunde versuchten die Notärzte Phil wiederzubeleben, Als die Beatmungsmaschine abgestellt wurde, gingen mir unzählige Gedanken durch den Kopf. Zunächst hatte ich keine Möglichkeit, mich zu fassen. Ein Sanitäter fragte mich damals noch, ob ich eine Beruhigungstablette haben wollte. Ich glaube, schon in diesem Moment wusste ich, dass ich diesen Schmerz durchstehen musste, lieber gleich als später. Und in diesem Moment muss ich auch gespürt haben, dass ich nie mehr eine Droge zu mir nehmen wollte. Es folgte ein Verhör bei der Kripo, denn schließlich waren mehrere Mitbewohner Zeugen. Dass mein Lebensgefährte gleich dabehalten wurde (wegen einer offenen Geldstrafe), hat mich kaum getroffen, eher die Tatsache, dass ich neben meinem eigenen Hund auch noch die zwei Hunde meines Partners zu verpflegen hatte. Ich ging damals zwar ab und zu schnorren, ohne die Hilfe von Außenstehenden hätte ich jedoch nie so lange durchhalten können.

An diesem 4. März konnte ich erst sehr spät in der Nacht einschlafen. Und auch in den nächsten zwei Wochen gab es nichts, was mir helfen konnte, das Geschehene so leicht zu verarbeiten wie meine Mitmenschen, die mittlerweile ihrem „geregelten" Leben nachgingen: Saufen, Pöbeln und Junken ... Ich behaupte nicht, von einem Tag auf den nächsten clean gewesen zu sein. In der ersten Zeit trank ich noch öfters ein Bier oder zog an einer Tüte, schließlich hatte ich auch vorher nichts anderes getan. Doch noch immer hatte ich mein Bibelstudium mit Jehovas Zeugen. Ich denke, eine Medizin mag auch nicht bei der ersten Einnahme halfen, doch auf lange Sicht hin macht sie immun gegen lästige Viren.

So war es auch hier. Mein Wunsch, mit den alten Gewohnheiten zu brechen, wurde immer stärker. Und irgendwann bald begriff ich auch, dass ich die alten Kreise meiden musste, um nicht Gefahr zu laufen, wieder an einer Flasche zu nippen oder gar mitzukiffen.

Meine damaligen „Freunde" erleichterten mir diesen Schritt, indem sie anfingen, mich als alles mögliche darzustellen. Die Tatsache, dass ich mich von meinem damaligen Lebensgefährten trennte, veranlasste meinen Vermieter, einen ehemaligen Zuhälter, mir sogenannte Männerfeindlichkeit zu unterstellen. Da ich fortwährend meinen Lebensstil änderte, fühlten sich die anderen durch mich in ihrer Lebensweise infragegestellt. So jedenfalls drückte es Gisela Schulze aus, die mir auch in dieser schweren Zeit eine große Hilfe war. Damals verstand ich es noch nicht so recht. Doch heute sehe ich den Sinn hinter diesen Worten, wenn ich den Bibeltext 1. Petrus 4:4 lese, worin es heißt: „Dass ihr diesen Lauf zu demselben Tiefstand der Ausschweifung nicht mit ihnen fortsetzt, befremdet sie, und sie reden fortgesetzt lästerlich von euch." Und ich lernte außerdem, 1. Korinther 15:33 anzuwenden: „Lasst euch nicht irreführen. Schlechte Gesellschaft verdirbt nützliche Gewohnheiten."

Ich flüchtete tagsüber in die Wälder. Während stundenlanger Spaziergänge mit meinem treuen Hund wurde ich ein wenig ruhiger.

Und wieder war es Gisela Schulze, die mir half. Sie stellte mich Wolfgang Gallfuß vom Verbund für Beschäftigung vor. Ich bekam die Möglichkeit, im Sinne einer gemeinnützigen Tätigkeit dort die Telephonzentrale zu besetzen. Ein weiteres Wunder war die Tatsache, dass man mir nach zwei Monaten eine Ausbildung anbot. Wenn mir noch 1 Jahr vorher jemand gesagt hätte, dass ich einmal eine Berufsausbildung anfangen würde, hätte ich zwischen 2 Schlucken Alkohol wahrscheinlich eine bösartige Bemerkung hervorgestoßen. Ein großes Glück war zudem, dass ich eine Ausbilderin bekam, die wohl einzigartig auf der ganzen Welt ist, In Barbara Mars fand ich einen Menschen, der mich kein einziges Mal merken ließ, dass ich mit meiner Vorgeschichte nichts mehr zu erwarten hätte. Obwohl mir die Berufsschule sehr schwer fiel - einfach aufgrund dessen, dass ich in gänzlich anderen Kreisen gelebt hatte - habe ich mit liebevoller Unterstützung von Barbara Mars und den übrigen Verbundmitarbeitern meine Ausbildung beenden können. Ich bin all diesen Menschen zu sehr großem Dank verpflichtet, weil sie mir in so vielen Dingen geholfen haben.

Heute würde mir wohl niemand mehr dieses Leben ansehen, obwohl ich denke, dass man vielleicht doch an meiner Persönlichkeit merken könnte, dass ich anders gelebt habe. Manchmal, besonders wenn ich wütend bin, kommt eben doch noch der Straßenslang durch.

Auch gehen mir fast täglich Gedanken an die frühere Zeit durch den Sinn. Gerne erinnere ich mich an Abende an Lagerfeuern mit Gitarrenmusik. Sogar beim Schnorren habe ich einige ganz besondere Persönlichkeiten kennengelernt. Ich kann an keinem Ort in Heidelberg vorübergehen, ohne nicht an irgendeinen Menschen aus meiner Vergangenheit erinnert zu werden. Leider sind die meisten davon mittlerweile verstorben. Und die wenigen, die davon noch übrig sind, verhalten sich reichlich sonderbar. Ich meine, ich weiß, dass ich mich verändert habe. Sicher pflege ich gewisse Ausdrucksformen von damals nicht mehr zu gebrauchen. Auch an bunten Haaren liegt mir nicht mehr sonderlich viel. Doch noch immer liegen mir die meisten meiner früheren Bekannten sehr am Herzen. Sie reagieren jedoch meist recht unsachlich auf mich. Niemand hätte irgend etwas von mir zu befürchten, ich lüge nicht mehr oder bestehle jemanden. Aber anscheinend wäre es vielen lieber, wenn ich wieder drogenabhängig und ungepflegt wie früher leben würde. Sage ich heute beispielsweise jemandem, was mir nicht gefällt, dann höre ich zumeist solche dummen Bemerkungen wie: „...seit du bei den Zeugen bist, bist du richtig blöd geworden." Und so weiter. Ich meine, meistens begrüße ich meine alten Bekannten nur. Und anstatt eines Hallos ihrerseits kommen solche unqualifizierten Bemerkungen. Oder wenn ich jemanden bitte, meinen Hund doch nicht mit irgendwelchen Kuchenresten zu füttern, auch dann muss ich mir so ‘ne Dummheit anhören.

Aber was soll’s. Es ist nicht wichtig, was diese Leute von mir denken. Ich weiß heute jedenfalls, dass die Kreise, in denen ich mich jahrelang aufgehalten haben, längst nicht so solidarisch mit allem Möglichen sind. Auch pochen sie alle zwar auf ihre Rechte, dass sie aber im Zusammenleben mit Mitmenschen auch Pflichten - oder besser Aufgaben - zu erfüllen haben, wollen sie gar nicht erst hören. Ich möchte auch mir selbst diese Schuld zuschieben, denn schließlich habe ich jahrelang auf Kosten anderer gelebt. Wenn ich nur an die Menschen denke, die mir aus Nächstenliebe Geld geschenkt haben, während ich es restlos für Drogen ausgegeben habe. Vielleicht muss ich diese und noch weitere Schuld bis auf Weiteres tragen. Doch verglichen mit dem Ende, dass es mit mir hätte nehmen können, ist es erträglich.

Ja, liebe Frau von Dallwitz, nun wollte ich nur ein paar Dankesworte schreiben. Und was ist daraus geworden? Ein Essay, seitenlang, vielleicht nicht umwerfend interessant, doch ich merke, dass es mir gut getan hat, über diese Dinge noch einmal zu berichten. Auch das mag ein Weg sein, Probleme zu bewältigen. Außerdem weiß ich, dass vielleicht ausgerechnet Menschen darüber erfreut sein mögen, von mir zu hören, die sich noch an das „Bunte Mädchen" erinnern können. Sie und Ihre lieben Mitarbeiter haben mir in all den schwierigen Jahren geholfen, wenn ich auch die Hilfe nicht immer habe erkennen können oder gebrauchen wollte.

Und vielleicht mag diese kurze Zusammenfassung einigen anderen Mut machen. Man muss nicht auf der Straße zugrunde gehen, auch wenn man dort gelandet ist. Ich denke, es gibt Grundprinzipien, die man nicht vergessen sollte, und man sollte sich immer für zu schade finden, in der Gosse zu landen. Das ist natürlich nicht zu verwechseln mit Überheblichkeit. Aber eine gewisse Mühe sollte man auf jeden Fall in sich investieren. Selbst wenn manche einer die Augen bei den Ideen verdreht, die man dabei entwickelt.

Sie haben mir auf liebevolle Weise meine kleinen Verrücktheiten zugestanden, ohne mich pädagogisch zu gängeln. Ich bin sehr dankbar für die Freundschaft, die ich zu Ihnen, Gisela Schulze und noch einigen anderen empfinden darf. Und ich hoffe aufrichtig, dass Sie uns sehr lange erhalten bleiben, denn was wäre, wenn gar keiner mehr sich um die sogenannten Randgruppen kümmern würde ... Es reicht ja schon, wenn die Betroffenen sich selbst aufgegeben haben - der Rest der Welt sollte damit vorerst noch warten, eh?

Mit den besten Wünschen für Sie alle und einer innigen Umarmung
S. Sch. und MOKWAI

  

 

 

Brief eines Schützlings... (S. 59-61)

Heidelberg, d. 15.02.97

Liebe Frau Klages!

Ich denke auch, dass ich ungefähr 8 Jahre Ihrem Verein angehöre. So vergeht die Zeit. Sie fragen mich, was ich von dem allen halte? Ich denke, mancher Mensch würde vielleicht gar nicht mehr am Leben sein, wenn es den Verein „Betreute Wohngruppen" nicht gäbe! Denn auf der Straße zu leben, heißt ja kein regelmäßiges Essen, keine Dusche, kein Bett. Und im Winter ist es noch grausamer, denn leise, bittere Kälte geht nicht nur an die Haut, sondern bis an die Knochen. Bei vielen der armen Menschen, die Jahre auf der Straße gelebt haben, hinterlassen sie viele Spuren und machen sie um Jahre älter. Was das schlimmste ist, ihre Seele hat darunter gelitten. Viele haben Glaube, Liebe, Hoffnung verloren, diese drei Dinge sind im Leben ja ganz wichtig! Und so werden aus den armen schwachen Menschen immer verzweifeltere Menschen. Dann gibt es viele Menschen, die diese schwachen kranken Menschen hassen, manche zeigen es nicht und tun es doch insgeheim! Bei Ihnen fanden diese Leute immer ein offenes Ohr und Hilfe in Rat und Tat! Von der Silvester- auf die Neujahrsnacht wurden in Deutschland von mehreren Jugendlichen Obdachlose in einem Bahnhof so brutal zusammengeschlagen, dass einer von ihnen nach 3 Tagen noch nicht mal vernehmungsfähig war. Ich fand es erschreckend und erschütternd, und frage mich heute noch, was sind das für Menschen, die den ärmsten Menschen so was Grauenvolles antun? Sie fragen mich, was ich von dem Ganzen halte und was mir nicht gefiel? Am Bedauerlichsten finde ich, dass Sie so wenig Zeit haben. Aber andererseits schätze ich es auch sehr, dass Sie so vielen Menschen in Not schon geholfen haben und immer noch helfen. Und ich habe verstehen gelernt, dass Ihre Zeit etwas sehr Kostbares und Wertvolles ist!

Was die Betreuung und die Leitung Ihres Vereins betrifft, werde und will ich kein Urteil abgeben, denn die Betreuung und Unterbringung Obdachloser ist sehr schwer und hart. Das kommt daher, weil die Obdachlosen in härtester Form oft jahrelang erfahren müssen, was eine Ausgrenzung vom politischen, wirtschaftlichen und sozialem Leben bedeutet! Ich finde, andere solche Einrichtungen in Deutschland sollten sich untereinander austauschen. Zum Beispiel das St. Ursula Heim in Offenburg erreicht täglich 150 Menschen mit seiner Hilfe. Damit weist es mit Abstand die höchsten Anlaufzahlen aller Einrichtungen auf. Zu 99 Prozent ist das Haus im Jahr belegt, was die Pflegesätze der Kostenrechnung sichert!

Nun aber zu mir! Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich in meiner Not nie im Stich ließen. Mein größtes und schönstes Erlebnis war, als ich krank war und in der Uniklinik, als Frau Funk mir eine kleine Bibel überreichte. Diese Bibel gab mir Kraft, wieder ans Leben zu glauben!

Wieder glauben zu lernen, verdanke ich auch zum großen Teil Ihnen, liebe Frau Klages, ihrer Herzensgüte. Die neue Wohnung, welche Sie uns gaben ... Danke!

Was mir nicht gefiel: Als ich damals mit meiner Krankheit heulend, völlig fertig, tagelang durch Heidelberg lief, ohne dass mich auch nur ein Mensch fragte, was hast du? Oder mir einfach seine Hand reichte! Das war für mich eine bittere Erfahrung, aber auch sehr lehrreich!

Natürlich frage ich mich heute noch oft, warum in meinem Leben so vieles schief gelaufen ist!

Inzwischen bin ich seit Jahren krank, eine der schlimmsten psychischen Krankheiten, die es gibt! Mein Kopf funktioniert nur mit Tabletten (Psychopharmaka). Oft dämmert man dahin, sieht die Welt verschwommen! Muss oft dagegen ankämpfen, mich nicht einer stillen Verzweiflung hinzugeben, Kaffee, Zigaretten, stundenlang vor mich hinstarren. Und sich zu nichts mehr aufraffen zu können! Geht es einem ganz schlecht, kann man in die Klinik. Dort bekommt man dann die Höchstmenge an Medikamenten. Nimmt man sie nicht, wird man am Bett festgezurrt und kriegt Spritzen, so wird man seiner Würde beraubt! Andere nicht Kranke sagen, die haben eine Macke, einen Schuss, sind neben der Kappe, spinnen, sind verrückt usw. So kann man auch verstehen, dass sich jährlich etwa 15.000 Menschen umbringen und den Freitod wählen, weil sie ein solches Leben nicht mehr ertragen und ablehnen! Davon bin ich im Augenblick weit entfernt. Dank Ihrer Güte! Und der Liebe meiner Lebensgefährtin! Sie glauben nicht, wie froh und dankbar ich Ihnen bin, noch ein selbständiges Leben führen zu können, ich könnte mir auf Erden nichts Schlimmeres vorstellen, als ein Leben in einem Heim für „Psychisch-Kranke" zu leben, und seiner letzten Würde beraubt zu werden!

Es ist ein Glück, dass ich und meine Lebensgefährtin uns so gut verstehen, geht’s einem schlecht, so sagt der eine zum anderen, lass dich nicht so hängen. Aber trotz allem haben wir es schwerer als ein Paar, das nicht an unserer Krankheit leidet.

Einmal sagten Sie: 8 Jahre schon! Das machte mich nachdenklich, 8 Jahre bin ich alter Dösbattel nun schon bei Ihnen. Wie sich ein Mensch doch an was gewöhnen kann, und dann glaubt, das muss wohl so sein? Sie gaben mir zwar nie das Gefühl der Beschränktheit, aber jetzt schäme ich mich doch, dass ich es bis heute noch nicht geschafft habe, allein mein Leben zu meistern! Ich werde mir alle Mühe geben, für die Zukunft mein Leben fester in den Griff zu bekommen!

Meine und meiner Lebensgefährtin Krankheit besteht zum großen Teil aus Angst. Eine schreckliche Angst! Natürlich habe ich mir oft gewünscht, mal eine Wohnung allein zu finden und mein Leben allein zu meistern. Ich habe es noch nicht geschafft, weil ich zu schwach war, dazu kommt, dass Sie mir nie das Gefühl vermittelten, dass Sie schwache Menschen hassen!

Ich verrate Ihnen meinen geheimsten Traum! Das ich einmal so viel Geld im Lotto gewinne, dass wir ein sorgenfreies Leben führen könnten. Dann würde ich noch einmal einen Besuch machen, mit dem größten Blumenstrauß, den Sie je bekamen und Ihnen ein großes Bündel 1000-Markscheine auf den Tisch legen, ohne Spendenquittung versteht sich. Wir würden uns eine Eigentumswohnung in Freiburg kaufen, und Sie und ihren Verein in guter Erinnerung behalten!

Warum bin ich heute so wie ich bin? Hatte ich eine faire Chance von Kindheit auf? Oder ist es tatsächlich so „Ein falsch erzogenes Kind ist für immer ein verlorenes Kind?" Was glauben Sie, wie oft ich als kleiner Junge das Bild meiner Mutter angeschaut habe, und alles gegeben hätte, einmal nur mit ihr reden zu dürfen. Aber nein, sie starb, als ich 2 Jahre alt war, und so hatte ich nur ihr Bild im Herzen!

Aber die Ähnlichkeit zwischen ihr ist gravierend, als ich das erste Mal bei Ihnen war! Sie waren mir auch wie eine gute Mutter! Aber einmal muss selbst Ihr später Zögling einmal erwachsen werden. Genau das werde ich jetzt mit ganzem Herzen anstreben. Sie und Ihr Mann sollten sich noch einen schönen Lebensabend machen, Sie haben es sich verdient.

„Manche Mutter, die ihr neugeborenes Kind im Arm hält,
fragt sich, wo kommst du her? Wie mag dein Leben später sein?
Wo gehst du hin nach deinem Leben?"
„Zerschlagt die Gläser, verschüttet den Wein,
lasst lieber den Sonnenschein in euer Herz hinein"

Viele herzliche Grüße ....
N.N.

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